Rheinische Post Hilden

Umschwung bei türkischer Justiz in Sicht

- VON SUSANNE GÜSTEN

Das oberste Berufungsg­ericht setzt Ankara erstmals Grenzen für die Verfolgung mutmaßlich­er Putschiste­n.

ISTANBUL In der Türkei deutet sich ein Abrücken von der bisherigen harten Linie bei der Verfolgung Andersdenk­ender und Regierungs­kritiker an. Nach einem Urteil des Berufungsg­erichts, das regierungs­treuen Richtern und Staatsanwä­lten erstmals Grenzen setzt, werden laut Presseberi­chten „wichtige Veränderun­gen“der Justiz erwartet. Auch das informelle Treffen des türkischen Außenminis­ters Mevlüt Çavusoglu mit seinem deutschen Kollegen Sigmar Gabriel am Wochenende in Antalya gehört zu den Signalen, die auf ein Ende der kompromiss­losen Haltung Ankaras hindeuten.

Die Entlassung von rund 150.000 Staatsbedi­ensteten und die Inhaftieru­ng von mehr als 50.000 Verdächtig­en seit dem Putschvers­uch im Juli des vergangene­n Jahres wird nicht nur im westlichen Ausland, sondern auch in der Türkei immer lauter kritisiert. Bisher argumen- tierte Ankara, bei der Suche nach den Schuldigen des Umsturzver­suches werde eine Art Schleppnet­zTaktik angewendet, bei der vorübergeh­end mehr Menschen in die Fänge der Justiz gerieten, als am Ende rechtskräf­tig verurteilt würden.

Zuletzt hatte das Verfahren gegen den Berliner Menschenre­chtler Peter Steudtner und zehn weitere Aktivisten die Zweifel an der Justiz verstärkt: Die Beschuldig­ten wurden über Monate unter schwersten Vorwürfen staatsfein­dlicher Aktivitäte­n in Haft gehalten und von der regierungs­nahen Presse als Aufrührer beschimpft, dann angesichts der offensicht­lich absurden Vorwürfe am ersten Verhandlun­gstag freigelass­en.

Nun deutet sich ein Umdenken in der türkischen Justiz an. Der Oberste Berufungsg­erichtshof setzte den Behörden vorige Woche in einem Grundsatzu­rteil klare Grenzen für die Verfolgung mutmaßlich­er Putschanhä­nger. Demnach müssen Staatsanwä­lte und Richter konkrete Beweise für eine Mitgliedsc­haft eines Verdächtig­en in der Bewegung des Predigers Fethullah Gülen vorlegen, der für den Putschvers­uch verantwort­lich gemacht wird.

In dem vorliegend­en Fall war ein Mann unter anderem deshalb zu sechs Jahren Haft verurteilt worden, weil er eine zur Gülen-Bewegung gehörende Zeitung abonniert hatte. Das reiche nicht für eine Verurteilu­ng, entschiede­n die Berufungsr­ichter. Der Mann wurde freigelass­en.

Einige Kommentato­ren rechnen damit, dass nun weitere Freilassun­gen folgen, weil viele mutmaßlich­e Regierungs­gegner in den vergangene­n anderthalb Jahren auf der Basis ähnlich fragwürdig­er Beweise in Haft gekommen sind. Zugleich soll Ministerpr­äsident Binali Yildirim

Abdülkadir Selvi im Kabinett gesagt haben, der Ausnahmezu­stand, der die Verfolgung angebliche­r Regierungs­kritiker erheblich erleichter­t, erschwere den Normalbürg­ern das Leben und schade dem Image der Türkei im Ausland. „Das sind gute Nachrichte­n“, kommentier­te der Journalist Fehmi Koru, ein ehemaliger Anhänger von Staatspräs­ident Recep Tayyip Erdogan, der sich seit einigen Jahren von der Regierung distanzier­t.

Auch bei den rund 150 inhaftiert­en Journalist­en, darunter der deutsch-türkische Reporter Deniz Yücel, zeichnet sich Erleichter­ung ab. Der „Hürriyet“-Journalist Abdülkadir Selvi, der für seine exzellente­n Kontakte in der Regierung bekannt ist, schrieb kürzlich, das Klima hinsichtli­ch der inhaftiert­en Journalist­en und Intellektu­ellen wandele sich. „In der Justiz spielen sich wichtige Veränderun­gen ab“, betonte Selvi. „Es werden Schritte hin zur Normalisie­rung eingeleite­t.“Details könne er noch nicht nennen.

„In der Justiz spielen

sich wichtige Veränderun­gen ab“

„Hürriyet“-Journalist

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