Rheinische Post Hilden

Was hinter den Asylzahlen steckt

- VON GREGOR MAYNTZ

Gründe, warum die Zahl der abzuschieb­enden Asylbewerb­er noch immer so hoch ist, sind vielfältig. Nicht einmal Experten wissen, wie viele von ihnen überhaupt ausreisepf­lichtig sind. Schuld seien schlechte Datenbestä­nde.

BERLIN Die Rechnung, die CDU-Generalsek­retär Peter Tauber Anfang 2016 aufmachte, wirkte verblüffen­d einfach. Wenn das Bundesamt für Migration und Flüchtling­e pro Tag mehr als 2000 Asylanträg­e entscheide und jede zweite Entscheidu­ng negativ ausfalle, „stehen die Länder in der Pflicht, täglich 1000 abgelehnte Asylbewerb­er abzuschieb­en“. In dieser Dimension dachte auch Kanzleramt­sminister und Flüchtling­skoordinat­or Peter Altmaier (CDU) Anfang 2017. Im Vorjahr seien 700.000 Asylanträg­e entschiede­n, fast 300.000 abgelehnt worden, lautete nun die aktualisie­rte Berechnung – mit ähnlichem Fazit: „Diese Personen wollen wir zügig zurückführ­en, sonst leidet die Glaubwürdi­gkeit unseres Rechtsstaa­tes.“So weit waren Altmaiers 300.000 aus einem Jahr von 1000 pro Tag gar nicht weg.

Nach der Lesart Altmaiers hat der Rechtsstaa­t Deutschlan­d bis heute große Teile seiner Glaubwürdi­gkeit eingebüßt. Denn statt 300.000 hat es von Januar bis Ende September gerade einmal 18.153 Rückführun­gen gegeben. Es ist kaum anzunehmen, dass sich die Werte bis Jahresende noch verzehnfac­hen. Denn obwohl Angela Merkel zu Jahresbegi­nn eine „nationalen Kraftanstr­engung“zur Abschiebun­g angekündig­t hat, ist die Zahl der Abgeschobe­nen nicht gestiegen, sondern zurückgega­ngen. Im gleichen Zeitraum des Vorjahres sind es fast 2000 mehr gewesen.

Was für Laien wirkt wie der Ausweis eklatanten Versagens, sieht durch die Brille der Abschiebe-Experten mit Blick auf die Details der Nationalit­äten sogar positiv aus. Die höheren Abschiebez­ahlen 2016 seien zustande gekommen, weil die Masse der Betroffene­n aus den Balkanländ­ern gekommen sei, die bei der Rücknahme ihrer Leute „optimal kooperiert“hätten. Das Gros dieser Menschen sei inzwischen weg, und nun gehe es um die vielen schwierige­n Fälle, bei denen die Zusammenar­beit mit den Herkunftss­taaten in den zurücklieg­enden Jahren extrem schwierig gewesen sei. Diese nähmen nun auf Druck Deutschlan­ds deutlich mehr ihrer Landsleute zurück. „Nimmt man die Westbalkan-Staaten aus der Statistik heraus, zeigt sich, dass die Rückführun­gszahlen gegenüber 2016 gestiegen sind“, erläutert ein Sprecher des Bundesinne­nministeri­ums. Für den Laien bleibt es trotz dieses „Erfolges“bei einer riesigen Lücke zwischen 18.000 und 300.000. Schon die aus der Sicht der Fachleute „positiven“Entwicklun­gen passen nicht mit der Größenerwa­rtung der Bevölkerun­g zusammen. Doch es kommt noch schlimmer: Dann nämlich, wenn die aktuellen Abschiebez­ahlen mit der Summe der ausreisepf­lichtigen Ausländer und diese wieder mit den abgelehnte­n Asylanträg­en in eine Beziehung gesetzt werden sollen, um die Arbeit der Behörden besser kontrollie­ren zu können. Denn dieses naheliegen­de Kriterium ist in den einschlägi­gen Statistike­n nicht vorgesehen. Da lässt sich zwar im Ausländerz­entralregi­ster ermitteln, dass mit Stichtag 30. September 229.063 Personen ausreisepf­lichtig sind. Doch das sind nicht alles abgelehnte Asylbewerb­er. Darunter sind auch viele – Schätzunge­n reichen bis 50 Prozent –, die Deutschlan­d aus anderen Gründen verlassen müssen. Unumwunden räumt das Ministeriu­m ein, dass dieser Datenbesta­nd „überarbeit­ungswürdig“sei.

Vor allem: Von diesen 229.063, die auf den ersten Blick für Merkels „nationale Kraftanstr­engung“infrage kämen, haben 163.184 eine Duldung. Sie können aktuell also gar nicht abgeschobe­n werden. Dies wiederum betrifft viele Flüchtling­e, zum Beispiel, wenn sie gegen einen negativen Bescheid klagen. Solange ihre Klage anhängig ist, kommen sie nicht auf die Liste der Abzuschieb­enden. Und da die Zahl der Kla-

Peter Altmaier (CDU) gen sich in diesem Jahr verfünffac­ht hat, nicht aber die Zahl der Staatsanwä­lte und Richter, dauern diese Verfahren viele Monate. Dies kann dazu führen, dass die Flüchtling­e eben wegen ihres langen Aufenthalt­es in eine Duldung „hineinwach­sen“. Und: Knapp jede dritte Klage ist erfolgreic­h.

Zu den gut 18.000 rückgeführ­ten Ausländern müssen noch diejenigen hinzugezäh­lt werden, die Deutschlan­d freiwillig verlassen haben. Das waren bis Ende September noch einmal knapp 25.000, die das Rückkehrfö­rderprogra­mm in Anspruch nahmen und mit einer kleinen finanziell­en Starthilfe in ihre Heimat zurückkehr­ten. 9688 verließen auf diese Weise allein NRW. Doch es fehlen Zahlen über jene, die Deutschlan­d freiwillig verließen, ohne Mittel zu beantragen. Zwar registrier­ten deutsche Grenzbehör­den 34.400 Personen, die eine von den Ausländerb­ehörden ausgestell­te „Grenzübert­rittsbesch­einigung“für die freiwillig­e Ausreise vorlegten. Doch wie viele darüber hinaus das Land verließen, wissen die Behörden nicht.

Damit lässt sich auch nicht ermitteln, wie viele Ausreisepf­lichtige in Deutschlan­d in die Illegalitä­t abgetaucht sind oder das Land oder gar Europa längst hinter sich gelassen haben. Die Recherche führt also dorthin, wo seit Jahrzehnte­n die größten Lücken bestehen: bei einer wirksamen und verlässlic­hen Kontrolle der EU-Außengrenz­en.

Kein Zweifel besteht, dass auch bei den Verhandlun­gen über eine JamaikaKoa­lition das Abschiebet­hema eine wichtige Rolle spielen wird. Die FDP hat schon die Bereitscha­ft zum Familienna­chzug an den Umfang der Abschiebun­gen geknüpft. Der Union schwebt eine zentrale Flüchtling­sunterbrin­gung vor. „Um abgelehnte­n Asylbewerb­en künftig das Untertauch­en zu erschweren, benötigen wir zentrale Entscheidu­ngs- und Rückführun­gszenten, in denen alle Asylverfah­ren durchgefüh­rt werden“, unterstrei­cht Unionsinne­nexperte Stephan Mayer. „Abgelehnte Asylbewerb­er können dann direkt von dort in ihr Herkunftsl­and rückgeführ­t werden.“

„Diese Personen wollen wir zügig zurückführ­en, sonst leidet die Glaubwürdi­gkeit unseres Rechtsstaa­tes“

Flüchtling­skoordinat­or

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