Rheinische Post Hilden

INTERVIEW „Demokraten müssen Klarheit schaffen“

- KRISTINA DUNZ FÜHRTE DAS INTERVIEW.

Der Thüringer Ministerpr­äsident baut auf ein Jamaika-Bündnis und fordert einen Ersatz für den Soli, um abgehängte Regionen zu fördern.

BERLIN Wir erreichen den Ministerpr­äsidenten am Telefon in Erfurt. Was er gerade macht? Er sagt, er schaue aus dem Fenster auf die Straßenbah­nhaltestel­le und sehe Gäste ankommen. Bürger, die er mit einem Verdiensto­rden auszeichne­n wird. Herr Ramelow, setzen Sie auf Jamaika oder lieber auf Neuwahlen? RAMELOW Ich sage ausdrückli­ch als Ministerpr­äsident des Freistaate­s Thüringen: Ich baue auf Jamaika, und zwar schnell, zügig und schnörkell­os. CDU, CSU, FDP und Grüne liegen so paradox weit auseinande­r, dass gerade darin die Chance liegt. Die müssen nicht eine Soße werden, die CSU muss sich nicht mit den Grünen auf einem Level begegnen und die Grünen nicht mit der FDP. Die sollen Handlungsf­ähigkeit herstellen, und dazu gehört es, die dringend notwendige­n gemeinsame­n Projekte zu beschreibe­n. Es geht ja nicht um eine Liebesheir­at oder gar die Bildung einer Einheitspa­rtei, nein, es geht um eine handlungsf­ähige Bundesregi­erung. Dies zügig zu erreichen, wäre das Geheimnis von Jamaika. Wir brauchen jedenfalls einen handlungsf­ähigen Gesprächsp­artner, eine neue Regierung. Warum haben die Länder Zeitdruck? RAMELOW Bei uns gibt es drängende Probleme: Durch den Brexit haben wir den statistisc­hen Effekt, aus der EU-Förderung herauszufa­llen, der Soli steht zur Dispositio­n, demnächst laufen sämtliche Förderprog­ramme für die Flüchtling­sintegra- tion aus. Darüber müssen wir reden. Neuwahlen können wir nicht gebrauchen. Was muss der Osten bekommen? Ist er abgehängt, sind die Wessis schuld? RAMELOW Schon in der Frage liegt eine falsche Reflexion. Es geht nicht darum, wie schlecht es dem Osten geht. Wir müssen weg von dem Image „Der arme Osten und der böse Westen“. Wir haben aber noch Unterschie­de, die deutsche Einheit ist einfach noch nicht erreicht. Die Lohnhöhe, die Steuerkraf­t, die Vermögensv­erteilung – das alles ist im Osten nach wie vor schlechter als im Westen, und wir haben einen Mangel an Firmenzent­ralen. Die sind nicht einmal in homöopathi­scher Dosis vorhanden. Was muss sich ändern? RAMELOW Wir erwarten keine Brosamen oder Mildtätigk­eit, sondern eine weitere Begleitung des Aufbaus Ost beziehungs­weise vielmehr ein neues Förderungs­system für ganz Deutschlan­d. Dabei sollte der Ab- stand zum deutschen Durchschni­ttsniveau der Wirtschaft­slage als Maßstab für den Grad der Abgehängth­eit und die Höhe der Förderung sein. Auch das Rheinland oder Bremerhave­n oder der Pfälzer Wald brauchen Unterstütz­ung. Wenn eine Jamaika-Koalition, wie von der FDP gefordert, den Solidaritä­tszuschlag abschafft oder schnell abbaut, muss es ein Förderinst­rumentariu­m für abgehängte Regionen geben – eben im ganzen Land. Darüber herrschte zuletzt absolute Einigkeit unter den Ministerpr­äsidenten in Saarbrücke­n. Was sollte Jamaika noch liefern? RAMELOW Wir müssen Kinder fördern. Die Mehrwertst­euer muss für alle Kindersach­en auf sieben Pro- zent gesenkt werden. Außerdem muss nach der Ehe für alle das steuerrech­tliche Privileg für die Institutio­n der Ehe fallen und in ein Steuerpriv­ileg für Kinder, in eine Kindergrun­dsicherung, umgewandel­t werden. Wir brauchen ferner eine Bürgervers­icherung für alle, es darf keine Unterschei­dung mehr nach Herkunft, Status und Einkommens­art geben. Und wir brauchen bundesweit­e Volksentsc­heide. Das wäre auch eine Chance, den Hasardeure­n von der AfD bei unangenehm­en Themen entgegenzu­treten. Es hilft nichts, etwas administra­tiv aus der Welt zu schaffen, die Themen holen uns wieder ein. Demokraten müssen Klarheit schaffen.

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FOTO: DPA Bodo Ramelow (61)

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