Rheinische Post Hilden

Der ewige Arbeitsmin­ister

- VON REINHOLD MICHELS

Der CDU-Politiker verteidigt wortgewalt­ig das Soziale in der Martkwirts­chaft.

Norbert Blüm ist 82 Jahre alt. Und er gibt keine Ruhe. Das ist gut so. Wir vermissen schon jetzt, trotz seiner manchmal absurden Altersradi­kalität, den politische­n Feuerkopf Heiner Geißler, der vor Kurzem verstorben ist. Wenn nun auch der quickleben­dige Hand- und Kopfwerker Blüm das Reden und Schreiben ließe, dann würden die nicht kieselglat­t geschliffe­nen Politrentn­er fehlen, die lieber auf Barrikaden gehen als auf Bänken zu hocken.

In seinem letzten (?), teils autobiogra­fischen, teils tagespolit­ischen, manchmal anrührende­n, dann auch wieder streitschr­iftartigen Buch wendet sich Großvater Blüm zum Schluss an seine sechs Enkel. Sieben Ratschläge schreibt er ihnen. Norbert Blüm, diese immer noch frappieren­de, in der bundesrepu­blikanisch­en Geschichte einmalige Mixtur aus Werkzeugma­cher und Philosoph, aus Sozialstaa­tspraktike­r und Vordenker, nennt den Brief an seine Enkel „die Quintessen­z meiner Lebensreis­e“. Damit es nicht gar so feierlich endzeitig wird, schränkt er, augenzwink­ernd, ein: „das vorläufige Endergebni­s meiner Lebensreis­e“.

Klar doch, das war’s noch nicht, da kommt noch was, da ist noch reichlich Glut in dem Mann, der sich als „linker Konservati­ver“vorstellt. Manche werden fragen: Gibt es das überhaupt? „Links und frei“, wie Willy Brandts Autobiogra­fie lautete, das passt. Aber links und konservati­v? Und wie das passt. Geißler war ein treff liches Beispiel dafür, und Blüm ist es ebenfalls. Zu den stärksten Buchpassag­en zählen neben Blüms auch schriftste­llerisch beeindruck­ender Schilderun­g seines kurzen Zelt-Aufenthalt­s im Lager von Idomeni jene Prüfsteine für sein Konservati­vsein als Christsozi­aler. Ein Kernsatz lautet: Erhalten kann mutiger sein als verändern. Vor zwölf Jahren stellte der linke Konservati­ve dem global aktiven Finanzkapi­talismus so überzeugt wie seherisch im Interview mit unserer Redaktion sein Zeugnis aus: men- schenverac­htend! Zerstöreri­sch! Es sprach damals wie heute der AntiKommun­ist und Anti-Kapitalist, der linke Konservati­ve, der den Nachwachse­nden zuruft: „Bewegt euch. Schaut nicht weg. Verändert die Welt, aber zerstört sie nicht.“

Blüms Buch wirkt bei all seinen Elementen, die von sozialpoli­tischer Vitalität, Begeisteru­ng für das Großprojek­t vereinigte­s Europa und leidenscha­ftlicher Humanität zeugen, phasenweis­e auch wie altes Gehölz, das seit Jahren herumliegt und das der Autor zusammentr­ägt. Im sechsten Kapitel, überschrie­ben mit „Kampf um den Sozialstaa­t“, meint man, die längst bekannten Einsichten und Bekenntnis­se des „ewigen“Bundesmini­sters für Arbeit und Sozialordn­ung (1982–1998) zu lesen. Auch das Unterkapit­el über den komischen „Onkel Adolf“aus der Verwandtsc­haft erscheint eher familiär skurril, als es dem doch tief ernsten Thema der lesenswert­en Streit- und Mahnschrif­t angemessen ist. Norbert Blüm: Verändert die Welt, aber zerstört sie nicht. Einsichten eines Konservati­ven. 2017, Herder, 288 S., 20 Euro

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FOTO: ERLESENTV Norbert Blüm
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