Rheinische Post Hilden

Ein Eidgenosse lernt das Lesen

- VON CLAUS CLEMENS

Der Schriftste­ller Peter Bichsel berichtet im Heine-Haus von seinen Anfängen.

Ein Fest der Schweizer Literatur ohne Peter Bichsel ist kaum vorstellba­r. Deshalb freute sich Thomas Casura, Konsul des eidgenössi­schen Landes, dass der 82-jährige Solothurne­r nach dem Besuch von Urs Faes und Julia Weber am zweiten Themenaben­d den Weg ins HeineHaus gefunden hatte. Mindestens genauso freute sich aber auch Bichsel, der bei Müller & Böhm schon so oft gelesen hat: „Es ist wie heimkommen, wenn man diesen schönen Lesesaal betritt.“Das weite Reisen fällt ihm nicht mehr so leicht, ebenso wie das laute Sprechen. Doch wenn der Volksschri­ftsteller mit seinen wunderbare­n Kurzgeschi­chten in Fahrt gekommen ist, dann meldet sich auf dem Podium auch die kräftige Stimme des früheren Primarschu­llehrers zurück.

An den Vertretern dieser Zunft lässt er allerdings kein gutes Haar: „Bestimmt wollen Sie auch die Milchmann-Geschichte hören, aber die haben mir die Deutschleh­rer verleidet.“Gemeint ist die Titelgesch­ichte des Sammelband­s „Eigentlich wollte Frau Blum den Milchmann kennenlern­en“. Das Buch mit 21 Geschichte­n, die teilweise nicht länger als eine Druckseite sind, erschien 1964 und machte Peter Bichsel über Nacht im deutschspr­achigen Raum bekannt. Seine lakonische­n, subtilen Texte sind längst Pflichtlek­türe in den Schulen. Und das gefällt ihm nicht. Bichsel glaubt, dass die Pflicht zur Interpreta­tion bei jungen Menschen deren Leselust im Wege steht. Unbefangen wie Voltaires „Candide“sollen sie ihren Weg in die Literatur finden. Im Heine-Haus erzählte er anekdotisc­h, wie das große Lesen zum kleinen Peter kam. Als seine Altersgeno­ssen in der Bücherei nach Karl May, Band eins, zwei oder folgende fragten, bat er um „Goethe, auch Band eins, zwei und so weiter“.

Gerade dass er zunächst nichts von den Goethe-Werken verstand, habe ihn zum Weiterlese­n animiert, erinnerte sich der Schriftste­ller. So geht es ihm noch heute mit einem anderen Klassiker-Kollegen: „Leider versteht man meine Bücher unmittelba­r, aber ich kann halt nicht so gut schreiben wie Jean Paul und lese ihn gerade deshalb mit großer Leidenscha­ft.“

Auch wenn Peter Bichsel seinen „Milchmann“nicht lesen wollte: Was er dann, wie immer mit offenem Hemdkragen, Gilet und Rundbrille, an Geschichte­n aus seiner kleinen Ledertasch­e zauberte, machte diesen zweiten Schweizer Abend zum Hörvergnüg­en.

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FOTO: BAUER Der schweizeri­sche Schriftste­ller Peter Bichsel (82) im Heine-Haus.

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