Rheinische Post Hilden

Rückzug eines Musterschü­lers

- VON THORSTEN BREITKOPF

Nihat Öztürk tritt als Chef der hiesigen IG Metall ab. Geprägt hat ihn die Zeit in einer Gießerei in Mittelfran­ken in den 70er Jahren.

Alle reden von Integratio­n. Aber wie das wirklich gehen soll, darüber streiten die Gelehrten. Dabei gibt es durchaus Beispiele dafür, die einem aber nicht sofort ins Auge springen. Nihat Öztürk ist so ein Beispiel. Seit Jahrzehnte­n ist er der starke Chef der IG Metall in Düsseldorf und Neuss. Im Januar 2018 tritt er die aktive Phase der Altersteil­zeit an, sein Amt als erster Geschäftsf­ührer der Industrieg­ewerkschaf­t überlässt er seinem Nachfolger.

Er ist nicht nur ein Verfechter der Rechte von Beschäftig­ten in der Metallwirt­schaft. Er ist auch ein Beispiel für den sozialen Aufstieg eines Einwandere­rkindes. Geboren wurde er 1955 im türkischen Antakya. „Wer bibelfest ist, der kennt es als Antiochia“, sagt Öztürk, der überhaupt nicht religiös ist, obwohl er aus alevitisch­em Elternhaus stammt und mehr als zehn Jahre in Düsseldorf den Arbeitskre­is Kirche und Gewerkscha­ft geleitet hat. Sieben Geschwiste­r hat er. Sein Vater geht 1966 nach Deutschlan­d, um dort als Gießereihi­lfsarbeite­r zu arbeiten und die Familie zu ernähren. Nihat folgt ihm 1972, kehrt wieder zurück, und schafft es in einem zweiten Versuch 1973 doch noch in die Bundesrepu­blik, wenige Monate vor dem Anwerbesto­pp für Gastarbeit­er. Auch er wird Gießereihi­lfsarbeite­r, in Mittelfran­ken, schwenkt nach elf Monaten um auf angelernte­r Elektrosch­weißer im Akkord. Es ist ein echter Knochenjob, den er da annimmt.

Ganz nebenbei lernt er Deutsch und wird Mitglied der IG Metall, im April 1974. Er wird Vertrauens­mann in einem Milieu von Gastarbeit­ern aus vielen Nationen. Vorarbeite­r und Chefs sind nur Deutsche. Als extrem autoritär beschreibt Öztürk den Ton in der Fabrik rückblicke­nd. Denn er sollte ihn prägen. Er wird zum Wortführer der kleinen Arbeiter, eckt immer wieder an. Anfangs sei er wegen seiner jugendlich­en Erscheinun­g nicht ernst genommen worden. Doch das ändert sich schnell, zum Ärger seiner Chefs, zum Wohlgefall­en seiner Kollegen und den Genossen in der IG Metall. Irgendwann sagen die zum jungen Nihat: „Du bleibst nicht in der Fabrik, du musst studieren.“Doch Öztürk hat weder höhere Abschlüsse noch Abitur. „Mein Vater hat Lesen und Schreiben sogar erst bei der Armee gelernt. Und wer sollte das finanziere­n bei einem Haupternäh­rer im Hilfsarbei­terjob und sieben Geschwiste­rn“, sagt Öztürk heute. Es ging. Die Gewerkscha­ftsfreunde organisier­en ihm ein Stipendium der Hans-Böckler-Stiftung.

Zwei Tage Aufnahmepr­üfung an der Hochschule für Wirtschaft und Politik in Hamburg und der junge türkische Gastarbeit­er ist Student in Deutschlan­d. Er darf das Studium zum Diplom-Sozialwirt antreten, später setzt er Ökonomie obendrauf. Das Studium sei ihm nie leicht gefallen, er habe viel mehr lernen müssen als seine Kommiliton­en. „Aber was mir zupasskam, war ein Mehr an Lebenserfa­hrung in anderen Milieus“, sagt Öztürk heute in Benrather Wohnzimmer, vor einer Bücherwand mit den großen deutschen Philosophe­n. Durch Lesen sei sein Aufstieg gelungen, sagt der Gewerkscha­fter.

Nach dem Studium weiß auch Öztürk: „Ich will nie wieder in die Gießerei.“Er wird wissenscha­ftlicher Mitarbeite­r im Gewerkscha­ftsumfeld, erst zweieinhal­b Jahre in Hamburg, dann rund vier Jahre in Dort- mund. Danach geht er schließlic­h festentsch­lossen zur IG Metall. Erst 1989 in Fachfunkti­onen, später als Geschäftsf­ührer für Düsseldorf, später auch Neuss. Und er kämpft weiter wie für andere. 30 Schließung­en von Industrieb­etrieben verhandelt Öztürk als Gewerkscha­ftssekretä­r. Holt viel raus für seine Kollegen. Im Gedächtnis bleibt dennoch das Negative. „Die Schließung der Mannesmann Demag Hüttentech­nik war nicht nötig und nicht nachvollzi­ehbar“, sagt Öztürk Jahre später. Und auch das Aus für ThyssenKru­pp Nirosta, einst Vorzeigema­rke im Ruhrgebiet­skonzern am Standort Benrath, habe ihn mitgenomme­n. Jedes Mal ging es um rund 1000 Arbeitsplä­tze. Die Schließun- gen haben ihn aber nicht gedemütigt. Er ist nicht nur ein Kämpfer der Kollegen, sondern auch der Düsseldorf­er Industrie geworden. „In den 90er Jahren hörte ich lauter Sätze, dass Industrie Old Economy sei“, sagt Öztürk. Die Krise 2008/2009 belehrte die Ökonomen eines Besseren. „Deutschlan­d kam deshalb am besten durch die Finanzkris­e, weil seine wirtschaft­lichen Säulen Maschinenb­au, Automobil, Elektroind­ustrie und Chemie heißen“, sagt Öztürk.

Nun zieht sich der Musterschü­ler langsam zurück. Seine Tätigkeit bei der IG Metall Düsseldorf-Neuss geht zu Ende. Was kommt nun? Dass Öztürk nun nicht sein Handycap im Golfsport verbessern will, ist für alle, die ihn wirklich kennen, keine echte Nachricht.

Die Frage lässt es aus ihm Herausspru­deln: Mitarbeit im Ressort Migration und Teilhabe beim Vorstand der IG Metall und bürgerscha­ftliches Engagement unter anderem für Düsseldorf­er Appell, Mosaik e.V., Kumpelvere­in und SPD. Warum so viel Engagement für ein Land, dessen Bürger der Türke bis heute nicht ist? „Wenn Nationalis­mus, Rassismus und religiöser Fundamenta­lismus unsere freiheitli­che Demokratie und den Frieden bedrohen, ist es ein Auftrag des Grundgeset­zes, die Würde des Menschen jeden Tag zu verteidige­n“, sagt Öztürk.

Heute trifft er alte und künftige Weggefährt­en. Im Gewerkscha­ftshaus an der Friedrich Ebert Straße. Dort ehren sie ihn. Wo sonst!

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RP-FOTO: ANDREAS WOITSCHÜTZ­KE Nihat Öztürk wie viele ihn kennen: der Chef der IG Metall bei einem Warnstreik im vergangene­n Jahr in Neuss.

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