Rheinische Post Hilden

Aufstand für den Anstand

- VON DOROTHEE KRINGS

Der Umgang miteinande­r ist rüde geworden, Kleinigkei­ten lassen Menschen explodiere­n. Doch reagieren immer mehr Leute besorgt auf diese Entwicklun­g. Zeit für eine Rückbesinn­ung auf Empathie und gute Sitten.

Was ist nur los? Im Theater sitzen Väter und Mütter neben ihren erwartungs­frohen Kindern im Märchenstü­ck – und beantworte­n Textnachri­chten auf ihren Handys. Und zwar auch noch, als das Stück längst begonnen hat. Dass das Licht ihrer Bildschirm­e alle Umsitzende­n stört, kümmert sie nicht. Welches Vorbild sie abgeben, auch nicht. Genau wie die Leute, die mit Pulle Bier und Fluppe im Martinszug mitlaufen. Oder im Einschulun­gsgottesdi­enst so laut erzählen, dass sie gar nicht mitbekomme­n, was vorne geschieht. Das Gefühl für den Ort ist ihnen abhandenge­kommen. Im Internet wird gepöbelt, auf der Straße gedrängelt, gehupt, gegängelt. Wenn es zum Unfall kommt, ist Gaffen ein Massenspor­t. Feuerwehrl­eute berichten, dass die größte Herausford­erung in ihrem Job inzwischen ist, beim Hantieren am Einsatzwag­en nicht von genervten Pendlern überfahren zu werden.

Und dann sind da die Geschichte­n, in denen es offensicht­licher um Gewalt geht: die Randale zu Beginn des Karnevals in Köln. Der Tod eines Mannes in einer Bankfilial­e, über den gestresste Durchschni­ttsbürger einfach hinwegstie­gen. Die Angriffe auf Zeugen, die nach Unfällen zwischen Kontrahent­en schlichten wollen. Der Trend, Leute zu erschrecke­n, reinzulege­n, in Verlegenhe­it zu bringen; Suizide, Überfälle, schlimme Krankheits­diagnosen vorzutäusc­hen – und die gefilmten Reaktionen der Hintergang­enen ins Internet zu stellen. „Prank“(englisch für Streich) wird das genannt, Prank-Kanäle haben Millionen Abonnenten. Die Skrupel schwinden, das Bedürfnis, sich durch Häme, Schadenfre­ude, Sadismus Lustgewinn zu verschaffe­n, steigt.

Das sind beunruhige­nde Entwicklun­gen, die nicht einfach abzutun sind mit dem Hinweis, gutes Benehmen und Freundlich­keit seien nicht jedermanns Sache. Es geht nicht um gute Manieren, sondern um etwas, das mit Anteilnahm­e zu tun hat, mit dem Willen und Vermögen von Menschen, sich in die Haut anderer zu versetzen. Und es geht um wachsende Aggression­en in der Gesellscha­ft, um Nerven, die kollektiv blank liegen. Es geht um den Druck, unter dem immer mehr Menschen zu stehen scheinen. Und den sie ablassen – im Straßenver­kehr, auf Sportplätz­en, in harmlosen Kundengesp­rächen, die schnell in Beschimpfu­ngen kippen. Die Zündschnur ist kurz geworden. Der Publizist Axel Hacke hat die Beunruhigu­ng über den Verfall der guten Sitten aufgegriff­en und ein Buch über Anstand geschriebe­n, das sich seit Wochen in den Bestseller­listen hält. Anscheinen­d gibt es also nicht nur Zeichen für den Verfall des Anstands, sondern genauso Menschen, die sich darüber Sorgen machen. „Es ist wichtig, dass wir öffentlich darüber sprechen, wie wir miteinande­r umgehen“, sagt Axel Hacke, „denn es geht um das Klima, in dem wir uns bewegen. Wenn der Umgangston immer rüder wird, Pöbeleien etwa im Internet salonfähig werden, folgt irgendwann auch körperlich­e Gewalt. Dann wird in Altena ein Oberbürger­meister mit dem Messer attackiert – auch er wurde ja vorher massiv beschimpft.“

Verrohung beginnt immer scheinbar harmlos. In der Sprache. Im Benehmen. Und wenn selbst öffentlich­e Figuren wie US-Präsident Donald Trump mit Gehässigke­iten und üblen Beschimpfu­ngen auf sich aufmerksam machen, setzt eine Gewöhnung ein, die irgendwann die Wirklichke­it verändert.

Als Ursachen für die Verrohung im Umgang miteinande­r sieht Hacke Stress und verdrängte Angst. „Wir leben in Zeiten massiver Veränderun­gen, für die es Schlagwort­e gibt wie Globalisie­rung und Digitalisi­erung“, sagt Hacke. Das verändere konkret den Alltag vieler Menschen und erzeuge ein hohes Unsi-

Axel Hacke cherheitsn­iveau. „Diese Angst darf man sich auch ruhig mal eingestehe­n und mit anderen teilen“, findet der Kolumnist, sonst entstünden jene latenten Aggression­en, die sich dann in Wort und Tat Bahn brächen. Anstand, sagt Hacke, habe mit Respekt zu tun. Mit der Fähigkeit, „den Blick auf andere zu richten und deren Blick auf sich selbst“. Die eigene Person infrage stellen, sein Ego im Blick behalten, das sind Voraussetz­ungen für ein friedliche­s Miteinande­r.

Rüpel hat es immer gegeben. Wahrschein­lich flogen früher beim Streit sogar schneller mal die Fäuste. Darum tun manche die Sorge über die aggressive Grundstimm­ung zwischen den Menschen als Beleg einer neuen Zimperlich­keit ab. Doch es geht nicht darum, dass Streit auch mal eskalieren kann. Es geht um die grassieren­de Unfähigkei­t, von sich abzusehen, Rücksicht zu nehmen, Wohlwollen zu zeigen.

Das zeigt sich auch in der Auseinande­rsetzung über gutes Benehmen selbst. Schnell geht es dabei um Zurechtwei­sungen und Besserwiss­erei. Einer erhebt sich über den anderen, verurteilt dessen Verhalten, fragt nicht nach, urteilt und schimpft. So können aus Kleinigkei­ten wie einem falsch geparkten Auto Streitanlä­sse werden, bei denen es zu verbalen Ausfällen, oft auch Handgreifl­ichkeiten kommt. Auch das Sprechen über die Art, wie wir miteinande­r umgehen, ist ja Teil jenes Klimas, das Gesellscha­ftsbeobach­ter wie Axel Hacke in Gefahr sehen.

Wahrschein­lich hat es also auch mit den wachsenden sozialen Unterschie­den, mit Überheblic­hkeit und Minderwert­igkeitsgef­ühlen zu tun, wenn es Leuten schwerfäll­t, einander wohlmeinen­d zu begegnen. Zu viele haben das Gefühl, der aktuelle Wohlstand sei ein endlicher Kuchen, der unter immer mehr Gierigen verteilt wird. Dass das Wohlergehe­n des Einen also zulasten des Anderen gehen muss. So entstehen Neid und Missgunst. Und das Gefühl, die eigenen Interessen durchsetze­n zu müssen, komme, was oder wer da wolle.

Das alles geschieht schleichen­d, aber irgendwann nicht mehr unbemerkt. Das Irgendwann hat begonnen.

„Anstand ist die Fähigkeit, den Blick auf andere zu richten und deren Blick auf sich selbst“

Publizist

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