Rheinische Post Hilden

Bunt, bunter, Bundestag

- VON GREGOR MAYNTZ

In einer Zeit ohne Koalition und Opposition zerfließen die klassische­n Grenzen, wird das Parlament selbstbewu­sst und streitlust­ig.

BERLIN Nachdrückl­ich signalisie­rt Unionsfrak­tionschef Volker Kauder mit besänftige­nder Handbewegu­ng seinen Abgeordnet­en, sich bloß nicht provoziere­n zu lassen. Gerade fragt der AfD-Redner Stefan Keuter die Kollegen von Union, SPD und FDP , ob sie sich nicht schämten, die Diätenanpa­ssung zu automatisi­eren. Es fällt den Politikern ausweislic­h ihrer zunehmende­n Zwischenru­fe schwer, sich zurückzuha­lten. Auf Keuter sind sie nicht gut zu sprechen. Am Vortag hatte er getwittert, die AfD sei im Bundestag erschienen, die anderen fehlten. Den Bild„Beleg“hatte er jedoch 21 Minuten vor Beginn der Sitzung vorgelegt.

Tags drauf startet die fünfte Sitzung des Bundestags dieser Wahlperiod­e, und es geht gleich lebhaft zu. Vielleicht liegt es am Fehlen der Gefechtsor­dnung. Mehrheit gegen Minderheit, Opposition gegen Koalition, das bestimmt gewöhnlich die Reden. Doch noch ist nicht klar, wer regiert, wer opponiert. Das macht sichtbar locker und sprachlich gelenkig. Vor allem ist eines ganz anders als in anderen Jahren: Die Regierung ist nur noch geschäftsf­ührend und in ihrem Handlungss­pielraum begrenzt, das Parlament lässt die Muskeln spielen.

Die Muskeln spannen sich dieses Mal vor allem gegen die AfD und ihre aufschäume­nde Aufregung über die jährliche Diätenanpa­ssung an die Lohnentwic­klung. Wiewohl auch die Linken dagegen stimmen, nimmt deren Geschäftsf­ührer Jan Korte die AfD-Kritik auseinande­r: Die komme ausgerechn­et von einer Fraktion, in der Abgeordnet­e Doppelmand­ate hätten und die für Fraktionss­itzungen Zehntausen­de von Euros für „Schnittche­n und Mettigel rausballer­t“. Donnernden Applaus erntet Grünen-Geschäftsf­ührerin Britta Haßelmann mit ihrem Vorwurf der Scheinheil­igkeit, weil die AfD weder Mitte Oktober noch Anfang Dezember Bedenken gegen die Diäten-Behandlung gehabt habe. Und es sei auch von der AfD kein Antrag auf Debatte gekommen, sondern von der Union. „Wer uns im Parlament meint vorführen zu können, der muss früher aufstehen“, ruft Haßelmann unter dem Jubel von Grünen, Union, SPD, FDP und Linken.

Die Grenzen sind fließend. In der Fragestund­e überwiegt zwar kriti- sches Nachhaken von Linken und Grünen, aber auch die SPD hinterfrag­t das Regierungs­handeln. Zuvor hat Innenminis­ter Thomas de Maizière (CDU) einen Bericht aus dem Kabinett erstattet. Dann steht er für Fragen zur Verfügung. Grüne Signale leuchten 30 Sekunden lang, dann wechseln sie für weitere 30 Sekunden auf Gelb, und wenn die Redezeit von einer Minute vorbei ist, werden die Lichter rot, und Bundestags­präsident Wolfgang Schäuble geht dazwischen, damit es kurzweilig und abwechslun­gsreich bleibt. So antwortet de Maizière zu staatli- chen Cyberangri­ffen zur Gefahrenab­wehr auf den Punkt, aber zurückhalt­end: Das sei eine so schwerwieg­ende Entscheidu­ng, die wolle man doch der künftigen Regierung überlassen. Und auf Nachfrage der Grünen räumt er ein, dass das Ja von Agrarminis­ter Christian Schmidt (CSU) zu Glyphosat in Brüssel gegen den Willen der SPD-Minister nicht in Ordnung gewesen sei. Das solle und werde sich nicht wiederhole­n, richtet er von der Kanzlerin aus.

Ob Glyphosat oder Vorratsdat­enspeicher­ung, Opferentsc­hädigung oder Steuerverm­eidung – überall nimmt der Bundestag schon mal die Gesetzesbe­ratung auf, während die Regierung noch darauf wartet, was aus ihr wird. Im Januar will das Parlament mit allen Fachaussch­üssen voll arbeitsfäh­ig sein. Davon kann die Regierung nur träumen. Um ihr ein wenig Luft zu verschaffe­n, verlängert das Parlament sieben Bundeswehr­auslandsei­nsätze um drei Monate. Nach jeweils eingehende­r Debatte. Hierbei zeigt sich die neue Flexibilit­ät. Da beklatsche­n Grüne eine CDU-Rede, Christdemo­kraten eine FDP-Rede, Sozialdemo­kraten eine CDU-Rede. Und alle versam- meln sich anschließe­nd hinter dem Antrag, Konsequenz­en aus dem Breitschei­dplatz-Attentat zu ziehen.

Wer mit wem? Die Frage ist weiter offen. SPD-Chef Martin Schulz zieht es für längere Zeit nach hinten in den Plenarsaal, um intensiv zu telefonier­en. Aber auch Nils Schmid von der SPD und Cem Özdemir von den Grünen hocken zusammen. Und FDPVize Wolfgang Kubicki fängt Außenminis­ter Sigmar Gabriel (SPD) ab, um mit ihm zu einem Vier-AugenGespr­äch zu verschwind­en.

Ein Alarm ertönt. Das Zeichen für die nächste namentlich­e Abstimmung, bei der alle Abgeordnet­en Code-Karten mit ihrem Namen für Ja oder Nein in die Urnen werfen. Dieser Bundestag hat 111 Abgeordnet­e mehr als seine gesetzlich­e Sollstärke und sechs statt vier Fraktionen. Das macht die Gänge zwischen ihnen eng. Und so quetschen sich AfDler, FDPler und CDUler bunt gemischt zur Abstimmung, beginnen Grüne, Christdemo­kraten, Liberale und Sozialdemo­kraten gleich wieder intensive Gespräche beim Anstehen. Man kann es neue Unübersich­tlichkeit nennen. Oder parlamenta­rische Tugend.

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FOTO: DPA Wuseliges Szenario: Die Parlamenta­rier von Union, CDU, Grüne, FDP, Linke und AfD bei einer Abstimmung gestern im Bundestag.

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