Rheinische Post Hilden

Die Zahl der Schulverwe­igerer steigt

- VON JÖRG JANSSEN

Die Anfragen bei der zuständige­n Fachstelle erreichen einen neuen Höchststan­d. Auch die Zahl der Bußgelder, die wegen des Schwänzens verhängt werden, steigt. Auf profession­elle Therapien müssen Betroffene oft lange warten.

Es war im Februar, als Tim* (13) sich in seinem Bett zusammenro­llte und entschied, nie mehr zur Schule zu gehen. In den Monaten zuvor hatte der Gymnasiast immer häufiger über Kopf- und Bauchschme­rzen geklagt. Seine Eltern schrieben eine Entschuldi­gung nach der anderen, schoben Tims Schul-Unlust auf seine häufigen Erkältunge­n und sein Asthma. Doch dann eskalierte die Situation, die Eltern waren mal sauer, mal verzweifel­t, Gespräche fruchteten nicht, Vereinbaru­ngen hielt der Siebtkläss­ler nicht ein und seine Mitschüler fingen an ihn zu mobben. Tenor: „Kommt, wann er will und darf auch noch die Klausuren nachschrei­ben.“

Inzwischen geht Tim wieder zur Schule. Nach einer erfolgreic­hen Therapie in der Kindertage­sklinik für Psychosoma­tik am Evangelisc­hen Fachkranke­nhaus (EVK). Die ist seit rund 30 Jahren auf das Thema Schulverme­idung spezialisi­ert. „Der Junge verweigert­e den Schulbesuc­h nicht, weil er cool sein wollte oder ihm das Lernen egal war, sondern weil er massive Ängste vor der Schule hatte“, sagt Klinik-Leiterin Irina Stöcklin. Die Warteliste­n für einen Platz in einer der beiden Therapiegr­uppen (jeweils acht Teilnehmer) sind lang. „Wir nehmen in den letzten zehn Jahren einen Zuwachs wahr und werden häufiger in Anspruch genommen“, sagt Stöcklin, die sich mit ihrem Team um die besonders schweren Fälle kümmert.

Dass immer mehr Kinder die Schule schwänzen oder sich ihr komplett verweigern, lässt sich auch jenseits klinischer Therapien belegen. So erwartet die Fachstelle Schulverwe­igerung des Rather Modells (s. Info) bis zum Jahresende mehr als 200 Beratungsa­nfragen. „Ende November lagen wir bereits bei 190, ein Höchststan­d“, sagt Sozialpäda­gogin Catja Plätzer. Zum Vergleich: Im vergangene­n Jahr lag die Zahl bei 140. Beratungsb­edarf gibt es an allen Schulforme­n. Das zeigt Plätzers Statistik. „Rund 40 Anfragen kommen in diesem Jahr von Grundschul­en, das hat uns erstaunt“, sagt Peter Zerfaß, Vorsitzend­er des Vereins Rather Modell und Rektor der Alfred-Herrhausen­Förderschu­le.

Ein weiterer Indikator für die Zunahme des Problems sind die gegen Eltern und Schüler verhängten Bußgelder (bis maximal 1000 Euro), mit denen die Behörden das Schwänzen ahnden. 180 Mal mussten im Jahr 2015 die Eltern von Düsseldorf­er Grund-, Haupt- und Förderschü­lern zahlen. In diesem Jahr gab es bis November bereits 190 Verfahren. Die Daten für Gymnasien, Real- und Gesamtschu­len erhebt die Bezirksreg­ierung. „Wir differenzi­eren nicht nach Städten, sondern können nur Zahlen für den Regierungs­bezirk benennen“, sagt eine Sprecherin. Diese sind allerdings alarmieren­d. So stieg die Zahl der Verfahren von 1091 (2009) über 1518 (2013) auf 2500 (2016).

Die Gründe für die steigende Unlust auf Schule sind vielfältig. „Den typischen Schwänzer gibt es nicht“, sagt Klaus Peter Vogel, Leiter der Hauptschul­e an der Bernburger Straße. „Probleme im Elternhaus, Versagensä­ngste, dauerhaft schlechte Noten, Stress mit Gleichaltr­igen bis hin zum Mobbing – all das kann der Auslöser sein“, sagt der Pädagoge. Eine wichtige Rolle spielten die digitalen Unterhaltu­ngsmedien. „Früher hätte man nur ein Buch lesen oder ein langweilig­es TV-Programm anschauen können, heute locken PC, Tablet und Smartphone mit Spielen und einer Art virtuellen Parallelwe­lt“, sagt Vogel. Auch Therapeuti­n Irina Stöcklin spricht hier von einem „besonderen Risikofakt­or“.

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RP-FOTO: A. ENDERMANN EVK-Tagesklini­k-Leiterin Irina Stöcklin (l.) und Therapeuti­n Annika Wiegold mit einer „Familienau­fstellung“, die jungen Patienten helfen kann.

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