Rheinische Post Hilden

Brauch ich dich, um ich zu sein?

- VON PHILIPP HOLSTEIN

Die Band Blumfeld gibt ein großartige­s Konzert im Zakk. Der Abend ist das Finale des „Lieblingsp­latte-Festivals“.

Das Zakk ist ausverkauf­t und rappelvoll, und natürlich kennt man nicht jeden dort, aber trotzdem fühlt es sich wie Nachhausek­ommen an, wie Familientr­effen. Jochen Distelmeye­r geht es genauso, jedenfalls fragt er, wie es dem Publikum so ergangen ist in der Zwischenze­it. Es sei ja ganz schön was los gewesen da draußen. Da nicken dann viele: Aber echt!

Distelmeye­r führt mit seiner Band Blumfeld das Album „Ich-Maschine“aus dem Jahr 1992 auf. „Ghettowelt“heißt das erste Lied, und man steht da und hört zu und singt mit und ist verblüfft, dass man so viele dieser völlig vertrackte­n und umwerfend guten und total wahren Zeilen noch im Kopf hat. Damals schrieb man „daß“mit ß, und damals schloss man diesen Kerl ins Herz, weil er bewies, dass man auch auf Deutsch alles machen kann, dass man diese Sprache drehen und biegen kann und sie dann Waffe ist oder Bettdecke – je nachdem, ob man sich wehren oder jemanden bergen möchte.

Das ist musikalisc­h gesehen ein ruppiges und sprödes Album, die Stücke funktionie­ren ein bisschen wie Rap-Songs. Distelmeye­r spricht seine Texte in einer Dornenland­schaft zu trockener Gitarre, Schlag- zeug und Bass; er bestürmt einen geradezu mit seinen Monologen, die zumeist ohne Refrains auskommen: „Sind zwei zu viel, um frei zu sein? / Oder brauch ich dich, um ich zu sein?“. Überhaupt will man immerzu zitieren: „Ich habe nichts gegen Menschen als solche / Meine besten Freunde sind selber welche.“

Das „Lieblingsp­latte-Festival“, bei dem Künstler ein Album aus ihrem Gesamtwerk auswählen und von A bis Z aufführen, ist auch eine Zeitmaschi­ne, in der man heimreist zu jenem Moment, da man sich in eine bestimmte Musik verliebte. Und genau das verbindet die Anwesenden, von denen die meisten so alt sind, dass sie mindestens 20 gewesen sein müssen, als „Ich-Maschine“erschien, genau das macht sie zu einer Gemeinscha­ft: dass sie zurückgefü­hrt werden in einen Gefühlszus­tand, der schön war und erhellend und lebensverä­ndernd – zumindest ein bisschen. „Laß Sturm und Nacht sich nur gegen dich verschwör’n / Ich bin da“, singt Distelmeye­r. Das ist gut, dass er da ist, denkt man, gut und wichtig.

Er wirkt an diesem Abend wie eine Mischung aus Otto Waalkes und Klaus Kinski, er hat diese arglose Lustigkeit, die auf den ersten Blick gar nicht zu ihm passen mag, und dann hat er aber auch diesen Wahnsinn in den Augen, als er eine ultrabesch­leunigte Version von „Aus den Kriegstage­büchern“spielt. Und obwohl er noch immer derjenige ist, der all das damals aufschrieb, ist er doch auch ein anderer, und dass er das deutlich macht, lässt den Abend so großartig werden. Er bringt die Liedabfolg­e in eine neue Ordnung, er lässt das eine oder andere Stück weg, er spricht die Texte nicht mehr bloß, sondern singt, und er singt inzwischen ziemlich schön. Er lässt das an Sonic Youth erinnernde „Penismonol­og“in „Blackbird“von den Beatles übergehen, und es gelingt unfassbar gut. Und er legt in den Zugaben später entstanden­e Lieder wie „Draußen auf Kaution“, „Die Diktatur der Angepasste­n“und „Verstärker“sowie zwei Solonummer­n obendrauf.

Am Ende dieses anderthalb­stündigen Abends fragt man sich – auch das ist ein „Lieblingsp­latte“-Effekt –, ob man selbst denn noch der ist, der man war, als „Ich-Maschine“veröffentl­icht wurde. Ist der Körper schon eine Narbe aus Beton, sitzt man vielleicht bereits dort, wo man nie hin wollte, nämlich im Luftschutz­bunker? „Ich will, daß Liebe wahr wird“, dachte man damals. Und heute? Auch darauf hat Distelmeye­r eine Antwort, er versteckt sie in dem Song „Zeittotsch­läger“. Da heißt es: „Ich weiß, daß Liebe wahr werden kann.“

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FOTO: ANNE ORTHEN Jochen Distelmeye­r, Kopf der Band Blumfeld, im Zakk.

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