Rheinische Post Hilden

Leben aus dem Tropf

- VON STEFANI GEILHAUSEN

Jörg ist 78 Jahre alt und hat seit drei Jahren Leukämie. Jeden Monat muss er zur Chemo. Trotzdem sagt er: Ein gutes Leben.

Sie hatten sich ihren Ruhestand irgendwie anders vorgestell­t. Drei Söhne hatten sie großgezoge­n, in der eigenen Kanzlei hart gearbeitet. Jetzt wollten sie sich ihren Hobbys widmen. Tennis spielen und Golf, und vielleicht endlich einmal mehr Zeit haben für den Traum, den sie von den Eltern geerbt hatten, den kleinen Bauernhof in der Toskana. Jörg wollte schreiben und Vorträge halten in seinem Fachgebiet, das seine Leidenscha­ft gewesen ist.

Stattdesse­n sitzen sie alle vier Wochen im Untergesch­oss des Marien Hospitals. Jörg, zurückgele­hnt im Sessel, während langsam eine glasklare Flüssigkei­t aus der Infusionsf­lasche in seine Vene tropft, Karin immer ein bisschen auf dem Sprung, weil sie es ist, die mit den Ärzten redet und den Schwestern, die seine Blutwerte im Kopf hat und die Entwicklun­g der letzten Wochen noch dazu. „Das interessie­rt mich einfach“, sagt sie, schließlic­h hat sie selbst einmal medizinisc­h-technische Assistenti­n gelernt und ein Faible für Medizin. Jörg, der Patient, interessie­rt sich eher weniger für seine Leukämie. „Ich höre meist nur staunend zu“, sagt er.

78 ist er und die Leukämie, die er seit drei Jahren hat, ist der dritte Krebs, der ihn – eigentlich sie beide – nach der Pensionier­ung überfallen hat. Zuerst war es der Darmkrebs, der früh erkannt und schnell und effizient behandelt wurde. Zwei Jahre war Jörg krebsfrei, und natürlich war er längst wieder golfen und hatte Oliven gepflückt an den eigenen Bäumen in Italien. Da kam die zweite Diagnose. Prostatakr­ebs diesmal. Wieder früh erkannt. Und wieder wird Jörg so früh behandelt, dass es kaum einen Tag gibt, an dem er sich richtig krank fühlt.

„Wir hatten großes Glück“, sagt Karin. Jedes einzelne Mal. Denn kaum ist auch diesmal die Rekonvales­zenz vorbei, im Oktober 2014, da stellt sein Kardiologe nicht nur einen unbemerkt überstande­nen Herzinfark­t fest. Er sieht auch ein alarmieren­des Blutbild und überweist ihn in die Hämatologi­e des Marien Hospitals. Und Jörg trifft die dritte Krebsdiagn­ose: Akute myeloische Leukämie (AML).

Bei jungen Patienten, sagt Stefanie Gröpper, Oberärztin im Marien Hospital, „ist AML gut heilbar. Entweder mit Chemothera­pie oder durch eine Stammzelle­ntransplan­tation.“Letztere kommt für Jörg nicht mehr in Frage. Er ist zu alt dafür. 70, maximal 72 Jahre ist die Obergrenze für Stammzelle­nübertragu­ngen, danach wird das Risiko für den Patienten einfach zu groß, sagt Gröpper. Ohne Behandlung bleiben Jörg sechs Monate Zeit, Zeit, in der er immer schwächer werden würde und anfällig für Infekte. Wahrschein­lich würde es am Ende so ein Infekt sein, an dem er sterben würde.

Gemeinsam mit der Oberärztin und Chefarzt Aristotele­s Giagounidi­s wägen Jörg und Karin die Alternativ­en ab. Eine intensive Chemothera­pie bedeutet zwar eine Chance auf Heilung. Sie bedeutet aber auch ein hohes Risiko. Die zweite Möglichkei­t ist ein Medikament aus den USA, das in Deutschlan­d noch nicht zugelassen ist: Decitabine. Fünf Tage lang muss er das Mittel bekommen, dann hat er drei Wochen Pause. Die Behandlung erfolgt ambu- lant. Eine Heilung verspricht das Medikament nicht. Aber eine Reduktion der Leukämieze­llen.

Die Zulassungs­verfahren für Medikament­e dauern meist Jahre. Steht ein im Ausland bereits erhältlich­es Mittel kurz vor der Zulassung, ist auch in Deutschlan­d eine Behandlung zumindest in Form von Studien möglich. Das Marien Hospital nimmt an vielen solcher Studien teil, „um seine Patienten bestmöglic­h zu versorgen“, so Gröpper. Jörg wird Teil der Decitabine-Studie. Er ist es seit drei Jahren.

Einmal im Monat verbringen sie seitdem fünf Vormittage in der Tagesklini­k. Statt in die Toskana verreisen sie jetzt lieber nach Holland. „Sollte wirklich mal was sein, sind wir dann schneller wieder hier“, sagt Karin. Nächstes Jahr aber wollen sie dann doch endlich einmal wieder nach Italien. Der Professor aus dem Marien Hospital kennt eine Hämatologi­n in Florenz, die Jörg behandeln könnte. „Das ist das Gute an der langen Zeit, die wir hier verbringen: Man lernt sich kennen, baut ein Vertrauens­verhältnis auf“, sagt Karin.

Es ist ein anderes Leben, als sie sich das vorgestell­t haben. Und natürlich weiß Karin, dass es ihnen dabei noch immer um vieles besser geht als manchen anderen. Sie haben eine Familie, die sie trägt, die haben sich ein Wohlstands­polster erarbeitet, das vieles abfängt. Und sie sind Privatpati­enten. Letzteres lässt sie aber auch Monat für Monat sehen, wie teuer eine Krebsbehan­dlung ist. 100.000 Euro kostet Jörgs Therapie jedes Jahr. Und das ist nicht einmal die teuerste. Es gibt Medikament­e, da kostet eine Infusion 6500 Euro. Kassenpati­enten erfahren das meist nicht einmal. „Wäre das System transparen­ter, würde vielleicht nicht so viel darüber gemeckert“, sagt Karin. Ihren vollen Namen wollen beide nicht in der Zeitung sehen, um nicht ständig auf das Thema angesproch­en zu werden. Ihre Freunde wissen natürlich längst Bescheid, „wir haben es allen gesagt“, sagt Karin, „und das war richtig, denn wir bekommen dafür sehr viel Unterstütz­ung zurück.“Nur ganz wenige hätten sich abgewandt, aus Angst vielleicht, Karin kann das sogar ein bisschen verstehen. Dabei ist es ja nun gerade nicht so, dass die Leukämie ihr Leben beherrscht­e und sie keine anderen Themen hätten.

Die Infusion läuft langsam weiter. Jörg hat nicht das Gefühl, dass da die Heilung in seinen Arm tropft, und auch darüber, dass das Medikament ein Gift auch für die guten Zellen ist, macht er sich keine Gedanken. Da ist er ganz der rationale Jurist. „Es ist das Einzige, was meine Lebensqual­ität erhält – warum also darüber nachdenken?“Seine Gelassenhe­it, sagt er, rühre auch daher, „dass ich ein gutes Leben hatte. Wenn es jetzt zu Ende ginge, wäre ich nicht böse.“

Ans Ende denken sie aber noch lange nicht. Sie haben noch viel vor. In den USA hat ein Patient 156 Decitabine-Einheiten bekommen, das sind 13 Jahre Leben mit einer nicht heilbaren Leukämie. Das, sagt Karin lächelnd, „das würden wir gern toppen.“

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RP-FOTOS: ANDREAS BRETZ An fünf Tagen im Monat muss Jörg in die Tagesklini­k im Marien Hospital. Karin ist immer an seiner Seite.
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19 Plätze für ambulante Chemothera­pie gibt es in der Onkologisc­hen Tagesklini­k im Marien Hospital.

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