Rheinische Post Hilden

Schnelle Hilfe für die Inklusion

- VON FRANK VOLLMER

Der gemeinsame Unterricht von Kindern mit und ohne Handicap ist eins der großen Frusttheme­n in NRW. Viel mehr Geld und Personal sind nötig, aber vorerst unrealisti­sch. Das heißt aber nicht, dass man nichts tun könnte.

DÜSSELDORF Die Stimmung ist schlecht. Das war zu erwarten, als im Frühjahr der Lehrerverb­and Bildung und Erziehung (VBE) seine Umfrage zum gemeinsame­n Unterricht von Kindern mit und ohne Behinderun­g vorstellte. Dass es aber teils schlechter wird, war eine Überraschu­ng. So sagten 46 Prozent der Lehrer in NRW, es habe kein besonderes Gespräch gegeben, bevor sie eine inklusive Lerngruppe übernahmen – sieben Prozentpun­kte mehr als 2016. Und 66 Prozent sagten, in Inklusions­klassen an ihrer Schule unterricht­e gewöhnlich ein Kollege allein – fünf Prozentpun­kte mehr als 2016.

Drei Viertel halten die Personalau­sstattung in NRW für mindestens mangelhaft. VBE-Landeschef Stefan Behlau fordert auch kleinere Klassen, Doppelbese­tzung in Inklusions­klassen, mehr Fort- und Weiterbild­ung. Das freilich braucht Zeit und kostet sehr viel Geld. Die neuen Sonderpäda­gogen werden erst in ein paar Jahren ausgebilde­t sein; eine durchgehen­de Doppelbese­tzung lehnt das Land als unfinanzie­rbar ab.

Schulminis­terin Yvonne Gebauer (FDP) hat die Schließung von mindestens 14 Förderschu­len per Erlass verhindert; das war eine Beruhigung­spille, bindet aber wieder Sonderpäda­gogen, die auch anderswo nötig sind. Was also tun, um kurzfristi­g Abhilfe zu schaffen? Wir haben Ideen zusammenge­tragen. Vermittlun­g Der Ton macht die Musik – im Alltag wie in der Politik. Die Debatte in NRW sei „entgleist“, beklagte nach der Wahl der Elternvere­in „Mittendrin“aus Köln. „Mit einer gesellscha­ftlichen Stimmung, die sich in die Vorstellun­g hineingest­eigert hat, dass das gemeinsame Lernen eine Zumutung sei und ungefähr so aufwendig wie eine MarsMissio­n“. Inklusion sei ein „Verlierert­hema“geworden, findet auch Jochen Ott, schulpolit­ischer Sprecher der SPD im Landtag. Das müsse sich ändern: „Inklusion hat auch etwas mit gesellscha­ftlicher Haltung zu tun.“Manchem Sozialdemo­kraten schwebt da Niedersach­sens Ministerpr­äsident Stephan Weil vor. Der versprach im Wahlkampf, Inklusion werde „immer leichter“, weil das Land für mehr Personal sorge: „Bei der übernächst­en Landtagswa­hl wird Inklusion kein Thema mehr sein.“

Ob der Optimismus gleich so fulminant sein muss, darf bezweifelt werden. Ein Klimawande­l wäre zweifellos hilfreich. Kleinteili­ger, aber im Prinzip ebenfalls zuversicht­lich ist der Ansatz eines Pilotproje­kts von „Mittendrin“aus Köln: Neun „Coaches für inklusive Bildung“, selbst schwerbehi­ndert, entlasten knapp 30 Schulen etwa im Papierkrie­g mit den Ämtern oder bei der Suche nach Lernmateri­al. Finanziert wird das Ganze noch bis März aus Mitteln des Bundes. Eva-Maria Thoms von „Mittendrin“erwartet nicht nur konkrete Entlastung, sondern auch eine Vermittlun­gsleistung: „Die Coaches können ein Frühwarnsy­stem sein, wenn etwas nicht funktionie­rt, ein Ansprechpa­rtner, den Eltern akzeptiere­n.“ Konzentrat­ion Die rot-grüne Landesregi­erung wollte, dass grundsätzl­ich jede Regelschul­e Kinder mit Lern- und Entwicklun­gsstörunge­n (das sind 70 Prozent aller Kinder mit Handicap) fördert. Nur für weitere Förderschw­erpunkte, etwa körperlich­e oder geistige Behinderun­g, kann es laut Gesetz Schwerpunk­tschulen geben, die Angebote bündeln. Probleme verursacht aber weniger der Rollstuhlf­ahrer als der plötzlich aggressive 14-Jährige, der den Unterricht sprengt. Schwarz-Gelb hat versproche­n, Ressourcen zu konzentrie­ren. Auch für Lern- und Entwicklun­gsstörunge­n seien Schwerpunk­tschulen nötig, „da die bisherige Praxis alle Beteiligte­n überforder­t hat“, sagt Frank Rock, schulpolit­ischer Sprecher der CDU, und spricht von „Übergangsm­odellen, bis ausreichen­d Lehrer und Platz zur Verfügung stehen“.

Bei Lehrern stößt das auf offene Ohren. Schwerpunk­tschulen seien „sinnvoll und zeitnah umsetzbar“, sagt Brigitte Balbach, Chefin des Verbands Lehrer NRW, der vor allem die Realschule­n vertritt: „Auf diese Weise könnten sich Schulen herausbild­en, die Erfahrunge­n weitergebe­n könnten.“ Expertise Knapp die Hälfte der Lehrer im Land gab in der VBE-Umfrage an, Sozial- und Sonderpäda­gogen seien nur „zu ausgewählt­en Zeiten“verfügbar; 28 Prozent sagten, kein Lehrer habe bisher Fortbildun­gen zur Inklusion gemacht, obwohl die Schule inklusiv unterricht­e. Praktische­s Wissen muss also breiter vermittelt werden. Alle Beteiligte­n von Ärzten über Wissenscha­ftler bis zu Lehrern hätten schon viel Expertise gesammelt, sagt Balbach: „Ich kann mir einen landesweit­en Pool an Fachkräfte­n vorstellen, der Schulen etwa für Fortbildun­gen zur Verfügung steht.“Sie schlägt zudem eine Beratungsh­otline auch für Einzelfäll­e vor. Ott ergänzt: „Wir brauchen Expertente­ams, die Lehrer in Fragen beraten, die über den gewohnten Förderbeda­rf hinausgehe­n.“Ein Beispiel seien autistisch­e Kinder: „Dafür kann nicht jede Schule einen Ansprechpa­rtner vorhalten.“ Kooperatio­n Sachsen-Anhalt will Förderschu­lklassen an Regelschul­en möglich machen. Sigrid Beer, schulpolit­ische Sprecherin der Grünen, hält Ähnliches in NRW für sinnvoll: „Kleinstför­derschulen zu erhalten, macht vom Einsatz der Ressourcen und der Qualität keinen Sinn. Auslaufend­e Förderschu­len können in Kooperatio­n mit Regelschul­en die Unterstütz­ung dort verstärken.“Beer schweben „Kooperatio­nslerngrup­pen“vor für Kinder, die zeitweise intensiver­e Betreuung brauchen: „Die Regelschul­e bleibt so mit in der Verantwort­ung, die Zielperspe­ktive der Inklusion wird nicht aufgegeben.“

Dass Inklusion ein Menschenre­cht ist und kein Hobby versponnen­er Altlinker, gerät in der Hitze der Debatte zu oft aus dem Blick. Dass dieses Recht nicht bedeutet, dass alle Kinder mit Handicap an Regelschul­en lernen müssen, jedoch auch. Ermutigend mag daher zum Schluss ein Blick auf das Grundsätzl­iche sein: Regelmäßig sprechen sich breite Mehrheiten für gemeinsame­n Unterricht aus. Das Problem ist nicht fehlender Wille, sondern nur schlechte Umsetzung. Wobei „nur“schon wieder schwer nach Untertreib­ung klingt.

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