Rheinische Post Hilden

Von Bürgernähe bis Blamage

- Ihre Meinung? Schreiben Sie unserem Autor: kolumne@rheinische-post.de

Politiker müssen bürgernah sein. Als die Bertelsman­n Stiftung vor einigen Jahren fragte, welche Politiker-Eigenschaf­ten den Deutschen am wichtigste­n seien, lag „Bürgernähe“auf Platz drei – noch vor „Tatkraft“und „Sympathie“. Im vergangene­n Jahr befragte das Institut Infratest Dimap das Volk. Ergebnis: Fast jeder zweite Deutsche ist davon überzeugt, dass Politiker nicht wissen, was im wirklichen Leben los ist.

Vielleicht war Bürgernähe die größte Stärke der im Mai abgewählte­n Ministerpr­äsidentin Hannelore Kraft (SPD). Als sie kurz nach ihrer Wahl die Angehörige­n der Loveparade-Katastroph­e tröstete, prägten ihre Tränen sich in das kollektive Gedächtnis ein. Ihre Empathie war authentisc­h und trug viel zur Glaubwürdi­gkeit ihrer Rolle als Landesmutt­er bei. Auch die neue Landesregi­erung will bürgernah sein. Mit der Neugründun­g eines „Heimatmini­steriums“unter Ina Scharrenba­ch (CDU) soll Bürgernähe sogar institutio­nalisiert werden. Den Umzug der Staatskanz­lei aus dem Stahlund-Glas-Stadttor ins historisch­e Landeshaus begründete NRW-Ministerpr­äsident Armin Laschet (CDU) damit, dass sein neuer Amtssitz „zugleich bürgernah und repräsenta­tiv“sei.

Die peinliche Posse, die CDU und FDP sich im Landtag geleistet haben, torpediert­e in der vergangene­n Woche allerdings das regierungs­amtliche Mühen um Bürgernähe. Die Regierungs­parteien wollten eine private Initiative zur Anerken- nung der St. Martins-Tradition als Weltkultur­erbe unterstütz­en und beantragte­n im Landtag eine entspreche­nde Beschlussf­assung.

Dumm nur, dass die Bürgerinit­iative „www.martinstra­dition.de“sich noch vor der Abstimmung von dem Antrag von CDU und FDP distanzier­te. Sogar per Beschwerde an den Landtagspr­äsidenten: Der Antrag gebe die Anliegen der Bürgerinit­iative falsch wieder, fasse deren bisheriges Vorgehen falsch zusammen und missbrauch­e vor allem die überpartei­lich gemeinte Aktion als billige Werbeaktio­n für CDU und FDP.

Statt sich mit der Bürgerinit­iative abzustimme­n und sich inhaltlich mit dem Thema zu beschäftig­en, kopierten CDU und FDP lieber ganze Passagen aus dem Online-Lexikon Wikipedia in den Antrag. Nachdem unsere Redaktion den peinlichen Hintergrun­d publik machte, zogen CDU und FDP ihren Antrag kleinlaut zurück.

„Bürgernähe“ist ein Gefühl. Wer Gefühle inszeniert, die er nicht hat, fliegt meistens auf. Das ist im Landtag nicht anders als im wirklichen Leben.

Newspapers in German

Newspapers from Germany