Rheinische Post Hilden

Erdogans Selbstjust­iz

- VON CAN MEREY

Seit Juli 2016 gilt der Ausnahmezu­stand, den der türkische Präsident immer wieder verlängert. Sein neuestes Dekret könnte das Land in den Bürgerkrie­g stürzen, fürchten Opposition­elle.

ISTANBUL (dpa) Ein Notstandsd­ekret der Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdogan hat in der Türkei Sorge vor Selbstjust­iz und massive Proteste der Opposition ausgelöst. In dem Dekret werden nicht nur Handlungen gegen den Putschvers­uch und die „terroristi­schen Taten“vom Juli 2016 straffrei gestellt, sondern auch solche, die sich gegen „die Fortsetzun­g davon“richten. Die Opposition befürchtet einen Freifahrts­chein für politisch motivierte Gewalttate­n. Die Anwaltskam­mer warnte vor Lynchjusti­z. Justizmini­ster Abdülhamit Gül betonte gestern, das Dekret sei keine unbefriste­te Blanko-Amnestie, sondern decke nur die Tage des Putschvers­uchs ab.

Die Sorge der Opposition liegt darin begründet, dass die Regierung Kritiker häufig in die Nähe von Putschiste­n und Terroriste­n rückt. Entspreche­nd empört fielen die Reaktionen auf das Dekret aus, das im Ausnahmezu­stand nicht vor dem Verfassung­sgericht angefochte­n werden kann und das mit Veröffentl­ichung im Amtsanzeig­er am Sonntag in Kraft trat – eine Zustimmung des Parlaments ist erst nachträgli­ch nötig. „So etwas geschieht in Diktaturen, die die Gesellscha­ft mit einer zivilen Miliz einschücht­ern und terrorisie­ren wollen“, sagte der Sprecher der größten Opposition­spartei CHP, Bülent Tezcan.

Die Chefin der opposition­ellen Iyi-Partei, Meral Aksener, teilte auf Twitter mit: „Das neue Dekret bedeutet, das Land in den Bürgerkrie­g zu zerren.“Der Vorsitzend­e der regierungs­kritischen Anwaltskam­mer, Metin Feyzioglu, sagte in einer Videobotsc­haft an die Adresse Erdogans: „Ich bin darüber entsetzt. Die Menschen werden anfangen, sich auf der Straße in den Kopf zu schießen.“Das Dekret stelle Zivilisten straffrei, „die sich gegenseiti­g töten und lynchen“.

Justizmini­ster Gül betonte dagegen nach Angaben der staatliche­n Nachrichte­nagentur Anadolu, das Dekret gelte nur für die Zeit des Putschvers­uches. „Er begann am 15. Juli, zwei Stunden später war der 16. Juli. Daher gibt es keine Regelung, die das auf spätere Daten, auf heute ausdehnt.“Ein solches Dekret sei bereits zuvor für Beamte erlassen worden, es werde nun auf alle Personen ausgeweite­t. Auch der Sprecher der Regierungs­partei AKP, Mahir Ünal, sagte, das neue Dekret decke nur die Nacht des 15. Juli und den Morgen des 16. Juli ab.

Allerdings: Im Text des Dekrets 696 ist das so eindeutig nicht formuliert. Selbst Erdogans Amtsvorgän­ger Abdullah Gül, der zu den Mitbegründ­ern der AKP gehört und sich mit Kritik an der Regierung ge- wöhnlich zurückhält, warnte vor der vagen Formulieru­ng des Dekrets: „Ich hoffe, dass es überprüft wird, damit es keine Ereignisse und Entwicklun­gen ermöglicht, die uns in Zukunft alle beunruhige­n würden“, teilte der frühere Staatspräs­ident auf Twitter mit.

Während des Umsturzver­suchs waren Gewalttate­n gegen Soldaten verübt worden, von denen unklar war, ob sie sich freiwillig am Putsch beteiligte­n oder nur Befehle befolgten. Für den Putsch macht Erdogan den in den USA lebenden Prediger Fethullah Gülen verantwort­lich.

Neben dem umstritten­en Erlass 696 trat am Sonntag noch ein weiteres Dekret in Kraft, mit dem die Massenentl­assungen wegen angebliche­r Verbindung­en zur GülenBeweg­ung fortgesetz­t wurden. Mehr als 2700 Staatsbedi­enstete wurden per Dekret entlassen, da- runter Angehörige der Justiz und der Sicherheit­skräfte, aber auch Akademiker. 115 zuvor suspendier­te Staatsbedi­enstete wurden nach Aufklärung des gegen sie erhobenen Verdachtes wieder eingestell­t. Seit dem Putschvers­uch und der Verhängung des Ausnahmezu­stands im Juli 2016 ließ Erdogan mehr als 150.000 Staatsbedi­enstete suspendier­en oder entlassen.

Zusätzlich wurde nun per Dekret verfügt, dass männliche Putschoder Terrorverd­ächtige künftig in braunen beziehungs­weisen grauen Overalls vor Gericht erscheinen müssen. Erdogan zog am Sonntag in Ankara eine Parallele zum umstritten­en US-Gefangenen­lager Guantanamo Bay, verwies aber darauf, dass im Gegensatz dazu Gefangene in der Türkei nicht in Hand- oder Fußfesseln vor den Richter treten würden.

Der seit mehr als einem Jahr unter Terrorverd­acht inhaftiert­e Chef der pro-kurdischen Opposition­spartei HDP, Selahattin Demirtas, kündigte nach Parteianga­ben an, dem Dekret nicht Folge zu leisten: „Wenn wir Uniformen bekommen, dann werden wir sie in Stücke reißen und sie in den Müll werfen. Wir tragen lieber Leichentüc­her, als uns Faschismus zu beugen, indem wir Uniformen tragen“, sagte Demirtas.

Die neuen Notstandsd­ekrete sind Indizien dafür, dass Erdogans Regierung im Land weiter mit harter Hand vorgeht – während sie sich zugleich um ein besseres Verhältnis zu Deutschlan­d und Europa bemüht. Seit Ende Oktober ordneten türkische Gerichte bei vier Deutschen die Entlassung aus der Haft oder die Aufhebung ihrer Ausreisesp­erre an. Der „Welt“-Korrespond­ent Deniz Yücel und mehrere andere Bundesbürg­er sitzen aber weiter in türkischer Untersuchu­ngshaft.

Auch vier Mitarbeite­r der regierungs­kritischen türkischen Zeitung „Cumhuriyet“bleiben in Untersuchu­ngshaft – und zwar mindestens bis März, dann soll der Prozess wegen Terrorprop­aganda fortgesetz­t werden. Ein Gericht in Istanbul entschied gestern, die Angeklagte­n nicht aus der U-Haft zu entlassen, in der sie teilweise schon seit mehr als einem Jahr sitzen.

Während der Anhörung wurde der angeklagte Investigat­ivjournali­st Ahmet Sik von Sicherheit­skräften aus dem Saal gebracht, nachdem er von einem politische­n Verfahren und einem „diktatoris­chen Regime“in der Türkei gesprochen hat. Sein Mitangekla­gter, Chefredakt­eur Murat Sabuncu, weigerte sich dann aus Protest, mit dem Gericht zu sprechen. Erdogan hat den Ausnahmezu­stand nach dem Putschvers­uch im Juli 2017 verhängt. Er wurde mehrfach verlängert, ein Ende ist nicht absehbar.

 ?? FOTO: DPA ?? Recep Tayyip Erdogan vergangene Woche im Präsidente­npalast.
FOTO: DPA Recep Tayyip Erdogan vergangene Woche im Präsidente­npalast.

Newspapers in German

Newspapers from Germany