Rheinische Post Hilden

80 Jahre und kein bisschen langsam

- VON JESSICA BALLEER

Klemens Wittig aus Dortmund stellte einen neuen Europareko­rd im Marathon auf.

DORTMUND Etwas mehr als dreieinhal­b Stunden sind seit dem Startschus­s vergangen. Einige Läufer brechen im Zielbereic­h zusammen. Andere stützen sich in gebückter Haltung auf den eigenen Knien ab. Der Frankfurt-Marathon hat ihnen alles abverlangt. Nicht so Klemens Wittig. Er läuft eingewicke­lt in eine deutsch-europäisch­e Flagge ins Ziel, winkt den Zuschauern zu. Der 80-Jährige strahlt.

Dabei zeigt seine Laufuhr eine bemerkensw­erte Zeit von 3:39:58 an. In Worten: unter drei Stunden und vierzig Minuten. Damit hat Wittig soeben einen neuen Europareko­rd im Marathon in der Altersklas­se 80 der Männer aufgestell­t. Das allein macht den Dortmunder schon zu einem Phänomen. Dass Klemens Wittig aber mitten im Rennen stürzte, sich schwer verletzte und das Rennen trotzdem zu Ende lief, hebt seine Leistung auf die Stufe eines kleinen Sportwunde­rs.

Wenn man von Wendepunkt­en im Leben eines Menschen sprechen will, dann muss man bei Klemens Wittig das Jahr 1977 betrachten. Im Alter von 40 hört er damals mit dem Rauchen auf. Er entdeckt das Laufen für sich. Aus ersten Runden um den Block werden viele Kilometer durch die Stadt. Neun Jahre vergehen, ehe der Dortmunder seinen ersten Marathon absolviert. Und aus der Freude über 42,195 zurückgele­gte Kilometer erwächst großer Ehrgeiz. „Das Joggen hat mein Leben verändert“, sagt der 80-Jährige.

Mittlerwei­le startet er für den LC Rapid Dortmund und ist der einzige deutsche Seniorensp­ortler, der in sämtlichen Laufdistan­zen von 800 Metern bis zum Marathon startet. Wittig wirkt stolz, als er das erzählt. „Natürlich“, sagt er, kann er alle Titel aufzählen: 24 Mal WM-Gold, 22 Mal EM-Gold und 41 Deutsche Meistertit­el – für Wittig ist das Laufen ein Leistungss­port. Das unterschei­det ihn zwar von anderen Altersgeno­ssen. Doch ist Ausdauersp­ort im Alter so beliebt wie nie.

Rund 197.000 Mitglieder zählt der Landesspor­tbund Nordrhein-West- falen allein in Leichtathl­etik-Vereinen. Die Gruppe der Seniorensp­ortler ist nicht nur die zweitgrößt­e. Sie wächst auch stetig: Mehr als 35.000 männliche und weibliche Mitglieder über 60 Jahren sind es bereits. Diese „Best Ager“gehören zu einer Gruppe von Menschen, die auch im Alter ihre Lebensqual­ität durch Sport erhalten wollen und können. Sie können das zeitintens­ive Training ausüben und besitzen das Wissen, wie gesund Sport sein kann.

In Köln, beim größten Marathon in Nordrhein-Westfalen, erreichten im vergangene­n Oktober 6071 Starter das Ziel – 268 davon in den Altersklas­sen 60 und älter. Beim Frankfurt-Marathon, als Wittig den neuen Europareko­rd aufstellte, waren rund fünf Prozent der Teilnehmer über 60.

Noch in der Nacht vor dem Start hatte Wittig Rückenbesc­hwerden. Er startete trotzdem, ließ sich von einem Kamerateam begleiten und war guten Mutes: bis Kilometer 34. Ausgerechn­et an dieser Schwelle eines jeden Marathon-Rennens, an der sich entscheide­t, ob man aufgeben muss oder die mentale und körperlich­e Härte besitzt, weiterzuma­chen, da stürzte der 80-Jährige. Wittig brach sich dabei das Schlüsselb­ein. Doch er zog das Rennen trotzdem durch, unterbot den deutschen Rekord um ganze elf Minuten. Und läuft nach wie vor jede Woche seine 50 bis 70 Kilometer. „Mehr aber nicht“, sagt er. Denn Regenerati­on sei genauso wichtig wie das Training selbst. Aber warum tut er sich das noch an?

Für Wittig ist das keine Qual. Es ist Leidenscha­ft, die ihn antreibt. Und, das gibt er zu, sein großer Ehrgeiz. „Nur der Zweitbeste zu sein, reicht mir nicht“, sagt er und lacht. Statt täglich „Pillchen gegen hohen Blutdruck“zu nehmen, sagt er, halte er sich mit dem Joggen fit. Und weil Wittig ausgeglich­en, zufrieden mit seinem Leben wirkt, glaubt man ihm jedes Wort.

Für den Sportwisse­nschaftler Wolfgang Potthast ist diese Botschaft wichtiger als der Europareko­rd. „Herr Wittig scheint fit zu sein und zu wissen, was er tut. Dazu kann man ihm nur gratuliere­n“, sagt Potthast. Er ist Professor an der Deutschen Sporthochs­chule Köln, lehrt und forscht am Institut für Biomechani­k und Orthopädie. Von der Empfehlung, dass Senioren nur schonenden Ausdauersp­ort machen sollten, hält er wenig. „Wichtig ist, dass der Sport zu der Person passt. Die Grundlagen dafür werden in der Kindheit gelegt“, sagt Potthast. Sehnen, Bänder und Gelenke passten sich langsam an, daher seien Intensität und Trainingsu­mfang entscheide­nd. Eine pauschale Empfehlung für Sport im Alter aber könne es nicht geben.

Klemens Wittig wiegt 62 Kilogramm und hat einen Ruhepuls von 42 Schlägen pro Minute. Ein Indikator dafür, wie gut er trainiert ist. Das Geheimreze­pt seines Erfolgs verrät er auch: Es seien die Kochkünste seiner Frau. Denn Wittig liebt Hausmannsk­ost. Er isst wenig Fleisch, aber täglich Suppe und Salat. Und nachmittag­s darf es auch ein Stückchen Kuchen zum Kaffee sein.

Wittig stellt nicht nur neue Rekorde auf. Der 80-Jährige definiert die Grenzen vom Sport im Alter völlig neu – und er will so schnell nicht damit aufhören. Der Dortmunder will alle 14 möglichen deutschen LaufRekord­e in der Altersklas­se 80 besitzen. Zehn hält er bereits.

 ?? FOTO: PRIVAT ?? Auf dem Weg zum Rekord: Klemens Wittig auf der Marathonst­recke.
FOTO: PRIVAT Auf dem Weg zum Rekord: Klemens Wittig auf der Marathonst­recke.

Newspapers in German

Newspapers from Germany