Rheinische Post Hilden

REISE&ERHOLUNG

- VON MANFRED LÄDTKE

KITTILÄ „Stop-whoa, he-he, stopwhoa“, schreit Johu, „bremsen“. Zu spät. Der Hundeschli­tten seines Hintermann­es touchiert in einer gefrorenen, holprigen Abwärtskur­ve eine Bodenwelle, bricht seitwärts aus und kippt mit Sack und Pack in einen Graben. Rutschpart­ien ins eisige Abseits sind unvermeidb­ar bei einer Wildnistou­r durch FinnischLa­ppland. Davor schützt auch nicht das Musher-Training im Huskycamp Äskäskero bei Kittilä, das Schlittenf­ahrer vor ihrer Eispartie absolviere­n.

Bis sich der in einen steifen Thermoanzu­g gepackte Polarfahre­r aus dem knietiefen Schneeloch heraus gehievt hat, ordnet Wildnisfüh­rer Johu die verheddert­en Zugleinen des Gespanns und beruhigt die schimpfend­en, zur Weiterfahr­t zerrenden Huskies. Trapper, Yankee und Xeno finden Pausen ebenso hundelangw­eilig wie die Leithündin­nen Nora und Moonlight. Erst recht aber mögen sie es nicht, wenn ihr Steuermann bei rasanten Abfahrten ihren Lauf mit der Fußbremse zügelt.

Wer sein Herz an die zähen, lauffreudi­gen Burschen verloren hat, weiß, die wollen nur eines – laufen, laufen, laufen… Und das kilometerw­eit und ungebremst durch die kalte Schneewüst­e. Sind die Vierbeiner gut drauf, schaffen sie im Winter gut und gerne bis zu 10.000 Kilometer. Allerdings muss es nicht immer Kraftsport sein. Ein langer Auslauf ohne Schlitten und Sprints macht die gutmütigen und gelehrigen Nordländer mindestens genauso glücklich.

Nach zehn Minuten gibt Johu das Zeichen: In die Hocke gehen, den Schneeanke­r aus dem Boden reißen und dabei gut festhalten. Mit einem jähen Ruck werfen sich die Dauerläufe­r in die Leinen und preschen mit 30 km/h den vorauseile­nden Gespannen hinterher. Weiter geht die Nordlandto­ur über vereiste Seen und scheinbar endlose Felder aus Pulverschn­ee. Das Thermomete­r zeigt minus 18 Grad.

Fast lautlos sausen die Hundeschli­tten in Marschform­ation durch Kiefer-, Fichten- und Birkenwäld­chen auf dem nahezu menschenle­eren Fleckchen Erde am nördlichen Polarkreis. Nur monotones Kratzen der Schlittenk­ufen und das stoßweise Hecheln der Hunde durchbrech­en die noch nie erlebte kalte Stille. Wenn Mensch und Tier vor Anbruch der Dunkelheit die nächste Einödhütte erreichen, haben sie drei Tage Eiszeit hinter sich und waren 180 Kilometer auf den Beinen. Teamgeist, Ausdauer und harte Beinarbeit sind Voraussetz­ung für einen Stehplatz auf dem Schlitten bei der fünf Tage dauernden Abenteuert­our. Gute Laune sollte selbst beim Küchendien­st nicht verloren gehen. Ein- und Ausspannen der pelzigen Kollegen, Hundepfleg­e und Hüttenarbe­it sind Teil der Expedition in die Winterwelt. Komfortabl­er, aber weniger exotisch und aufregend, sind organisier­te Tagesausfl­üge mit anschließe­nder Rückkehr in die warme Winterlodg­e. In der Ferne wird das Ziel der dritten Reiseetapp­e sichtbar. Die nahende Dämmerung zeichnet Blockhütte­n als schwarze Punkte auf den scheinbar endlosen Horizont. Beißende Windböen pfeifen zum Finale unbarmherz­ig um die mit Brillen, Tüchern, Fellmützen und Fettcreme geschützte­n Gesichter. Der „Flug“über die Bodenwelle einer letzten Kurve zwingt abermals zum artistisch­en Balanceakt auf den Kufen. Mit ganzem Gewicht stemmen sich die Schlittenf­ahrer auf die Fußbremse. „Raaaatsch“, lässt die Eisenharke im Hundegalop­p den Schnee hochstiebe­n.

Die Hütte liegt auf einer Anhöhe am Ufer, vom See keine 50 Meter ne und purpurfarb­ene Figuren über den Schnee. Schmale Lichtkegel wachsen zu hellstrahl­enden Bändern, wechseln im Flug Farbe und Gestalt und verschwind­en in der dunklen Unendlichk­eit, um neuen Nordlichte­rn Platz zu machen.

Mit dem Sonnenaufg­ang erwacht das Land aus seiner Erstarrung. Wacker bezwingen die Hunde 20 Zentimeter Neuschnee und ziehen ihre Gefährte durch immer dichter werdendes Schneetrei­ben. Noch 60 Kilometer bis zum Camp. Eine Motorschli­tten-Karawane und Langläufer auf gespurten Loipen sind untrügbare Vorboten aus dem nahen Winterspor­tcamp am Äkäskero-Berg. Jetzt gibt es für die Hunde kein Halten mehr. Nur mit einer Vollbremsu­ng gelingt es den Mushern, ihr Gespann durch das Campgatter zu lenken und zu stoppen. Mehr als 100 Huskies stimmen ein Freudengeh­eul an und empfangen die erschöpfte­n Heimkehrer. Der ohrenbetäu­bende Wettstreit der Hundeschna­uzen ist jedoch nicht nur Willkommen­sgruß, sondern auch pure Selbstrekl­ame für die nächste Tour. Jeder will mit von der Partie sein, wenn die Fremden kommen und zur „großen Fahrt“anspannen.

Hinter der Blockhütte

am Ufer steht ein Kloschuppe­n – mit herrlichem Seeblick, wie sich

später herausstel­lt

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FOTOS: MANFRED LÄDTKE Husky-Trail durch die Einsamkeit des nordischen Winters. Ausdauer und harte Beinarbeit sind Voraussetz­ung für einen Stehplatz auf dem Hundeschli­tten.
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