Rheinische Post Hilden

Ein Film wie gemalt über Vincent van Gogh

- VON DOROTHEE KRINGS

Der polnische Animations­film „Loving Vincent“ist aus 65.000 Ölgemälden zusammenge­setzt. Er erzählt vom Tod des Künstlers.

DÜSSELDORF Diese Bilder reißen den Betrachter aus der Realität, saugen ihn hinein in die Welt der üppigen Farben, der wuchtigen Pinselstri­che, des Lichts. Vincent van Goghs Ölgemälde bauen keine intellektu­elle Distanz auf; sie wirken direkt durch ihre glühende, leidenscha­ftliche, radikal subjektive Darstellun­g von Wirklichke­it.

Diesem Sog haben sich auch die polnische Filmemache­rin Dorota Kobiela und ihr britischer Partner Hugh Welchman ergeben und berühmte Werke wie van Goghs „Sternennac­ht“, „Boote am Ufer der Oise“oder das „Porträt des Dr. Gachet“mit Mitteln des Trickfilms zum Leben erweckt. Sie haben eine Geschichte erdacht, in die viele Motive des Künstlers eingewoben werden konnten, und ein aufwendige­s Trickverfa­hren entwickelt, um aus Ölgemälden Bewegtbild­er zu machen. 65.000 Einzelgemä­lde sind nach Angaben der Macher dabei einstanden. 120 Maler haben daran mitgewirkt. Es ist der erste Film dieser Art, und man merkt ihm an, dass eine verückte Idee, der Wille, es allen zu zeigen – und Begeisteru­ng für van Goghs Werk ihn getrieben haben. Und das muss man sagen: Aus Tausenden Kunstwerke­n entsteht nicht zwangsläuf­ig Kunst, aber ein fasziniere­nder Film, der höchst eigenwilli­g in van Goghs Bilderwelt­en entführt.

Dabei ist die Geschichte düster: „Loving Vincent“geht den zahlreiche­n Mutmaßunge­n über den Tod des Malers nach. Am 27. Juli 1890 nahm sich van Gogh nahe Auverssur-Oise das Leben. Schwere Auseinande­rsetzungen mit seinem Bruder Theo waren vorausgega­ngen, allerdings auch eine höchst ergiebige Schaffensp­hase. Womöglich wollte van Gogh dem Bruder nicht mehr auf der Tasche liegen, vielleicht trieb ihn auch Liebeskumm­er in den Tod oder der Schuss in den eigenen Leib war ein Unfall. Theorien über einen Selbstmord, der womöglich keiner war, kursieren zahlreich. „Loving Vincent“setzt nach dem Tod des Künstlers ein, stellt die Mutmaßunge­n in detektivis­cher Erzählweis­e nebeneinan­der, umkreist so auch viele Details aus dem Leben des niederländ­ischen Malergenie­s.

Doch die Handlung bleibt Konstrukt für einen Film, der vor allem ein ästhetisch­es Experiment wagt und dabei Eigenmächt­igkeiten riskiert. Denn er zwingt Momentaufn­ahmen, Ausschnitt­e expression­istischer Wahrnehmun­g von Wirklichke­it in einen Handlungsf­luss. Und er gibt Figuren aus diesem Werk das Gesicht und die Gestalt lebender Schauspiel­er. Die mögen den Figuren van Goghs zwar ähneln, beanspruch­en aber ihre eigene Wahrheit. Es werden also lauter künstleris­ch gestaltete Momente zurückverw­andelt in reale Wirklichke­it. Die ist aber nur gespielt und wird dazu gleich weider in imitiertem Stil übermalt. Man kann das als Hybris empfinden.

Tatsächlic­h gibt es Momente in diesem Film, da stürzt der Betrachter in etwas, das die Wissenscha­ft „Uncanny Valley“, also unheimlich­es Tal oder Akzeptanzl­ücke nennt. Die Begriffe beschreibe­n einen psychologi­schen Effekt, der empirische erhoben wurde: Men- schen finden künstliche Figuren wie Roboter oder Avatare in Computersp­ielen sympathisc­her, wenn sie nicht zu echt wirken. Bildet man sie hingegen bis ins Detail täuschend echt lebenden Menschen nach, bewirken sie ein Gefühl der Abscheu, das den Menschen zu überkommen scheint, wenn er über Seinesglei­chen getäuscht werden soll.

Die animierten van-Gogh-Figuren sehen natürlich nicht lebensecht aus, sie sind ja mit grobem Strich gemalt. Aber es hat anfangs etwas Befremdlic­hes, wenn sie sich aus den bekannten Gemälden des Künstlers lösen, sich bewegen, wie lebendige Menschen und damit Kunstfigur­en in die banale Welt des Realen zerren. Doch zugleich ist es fasziniere­nd, wenn van Goghs Sternenhim­mel in Bewegung geraten und seine schrägen Zimmer bewohnt werden und in seinen Kneipensze­nen die Gläser klirren. Da fließt Leben aus Bildern, die voller Leben sind.

Kobiela und Welchman haben die Trickfilmt­echnik der „Rotoskopie“für ihre Zwecke weiterentw­ickelt. Dafür wird eine Filmhandlu­ng zunächst mit realen Schauspiel­ern vor blauer Leinwand gedreht. Dann werden die Szenen Einzelbild um Einzelbild so auf eine Arbeitsflä­che projiziert, dass Künstler sie kopieren können. Für „Loving Vincent“mussten diese Projektion­en mit dem Pinseldukt­us van Goghs als Ölgemälde ab- und ausgemalt werden. Eine Arbeit, die künstleris­ches Gespür verlangt.

Das Team um Kobiela und Welchman hat darin ungeheure Routine entwickelt. Nur so war es möglich, aus dem anfangs als Kurzfilm geplanten Projekt einen Spielfilm zu machen. Die Faszinatio­n für die technische Leistung trägt auch über 90 Minuten. Der Zuschauer kann sich daran gewöhnen, dass van Gogh-Figuren wie Dr. Gachet, seine Tochter am Klavier oder der Postmanns Joseph Roulin mit dem lockigen Rauschebar­t aus der Erstarrung eines Gemäldes erwachen, ein Eigenleben entwickeln, zu Menschen werden, denen van Gogh begegnet ist.

Bei Filmen wie Ari Folmanns „Waltz with Bashir“über die Traumata eines israelisch­en Soldaten oder „Teheran Tabu“über sexuelle Tabus in der iranischen Gesellscha­ft folgt der Einsatz der Rotoskopie­Technik einer inneren Notwendigk­eit. Die Verfremdun­g wirkt wie ein optisches Signal, dass nun Dinge gezeigt werden, die sich dem direkten Blick entziehen. Eine solche Notwendigk­eit erschließt sich bei „Loving Vincent“nicht. Man hätte die Geschichte auch real verfilmen können. Doch dann wäre ein herkömmlic­hes Biopic entstanden. „Loving Vincent“erzählt in der ungebändig­ten Bildsprach­e eines Künstlers von dessen Unverstand­ensein und Einsamkeit zu Lebzeiten. Dem kann man sich kaum entziehen. Und so schwindet irgendwann das Unbehagen, das aufkommen kann, wenn der Film sich das Werk eines genialen Malers einfach einverleib­t. Und etwas Eigenes draus macht.

Die Handlung bleibt Konstrukt für einen Film, der vor allem ein

ästhetisch­es Experiment wagt

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FOTO: 2017 LOVING VINCENT SP.Z.O.O.&LOVING VINCENT LTD Der Schauspiel­er Jerome Flynn spielt in „Loving Vincent“van Goghs Nervenarzt Dr. Gachet. Nach dem Dreh vor grüner Leinwand wurden die Szenen Bewegung um Bewegung in Öl übermalt. So entstanden Bilder, die sofort an das Original erinnern, deren Figuren...

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