Rheinische Post Hilden

Wir schreiben das Jahr . . . ?

- VON GREGOR MAYNTZ

verschiede­nen Zeitrechnu­ngen im jüdischen, christlich­en und muslimisch­en Kalender sind laut Experten keine Lappalie, da sie identitäts­stiftend wirken. An Silvester offenbart sich Trennendes und Pragmatisc­hes.

BERLIN Wenn am Silvestern­achmittag in Deutschlan­d die Partyvorbe­reitungen laufen, knallen im hochsommer­lichen australisc­hen Sydney bereits die Sektkorken. Und wenn sechs Stunden nach dem mitternäch­tlichen Prosit Neujahr am Brandenbur­ger Tor die Frühaufste­her ihre Joggingrun­den durch den Tiergarten beginnen, läuft am Times Square in New York gerade der Countdown, haben es die Menschen in San Francisco immer noch drei Stunden bis 2018.

Solche Zeitzonenu­nterschied­e scheinen die größten Abweichung­en von einem weltweit gemeinsam empfundene­n festen Kalendariu­m zu sein. Doch im Grunde ist nichts willkürlic­her als unser aktuelles Gefühl, im Jahr 2017 und in Kürze im Jahr 2018 zu leben. Juden lesen ihre Feiertage aus ihrem eigenen Kalender ab, der steht gerade beim Jahr 5778 seit Schöpfung der Welt. Muslime orientiere­n sich in ihren Handlungen an ihrem Kalender und leben im Jahr 1439 seit Aufbruch Mohammeds von Mekka nach Medina.

Diese gewaltigen Zählunters­chiede sind keine Lappalie für das religiöse Selbstbewu­sstsein. „Die Zeitrechnu­ng ist in jedem Fall identitäts­stiftend“, sagt Andreas Weckwerth, Spezialist für Kirchenges­chichte an der katholisch­en Uni Eichstätt-Ingolstadt. Denn daran orientiere sich auch das innerrelig­iöse Jahr mit seinen Festen und Zyklen.

Dass sich ausgerechn­et die 525 entwickelt­e Definition „nach Christi Geburt“durchsetzt­e, ist im Grunde überrasche­nd, denn auch sie steht auf tönernen Füßen. Zwar hat eine Auflistung der Märtyrer im Jahr 1584 den Zeitpunkt der Geburt Christi in einen Zusammenha­ng mit vielen weiteren Zeitrechnu­ngen gesetzt (siehe Infobox), doch hüllen sich sowohl die zeitgenöss­ischen Quellen als auch die späteren Schriften über den Geburtster­min in Schweigen. Der 25. Dezember wird vor allem mit dem auf den 25. März fixierten Tag der Empfängnis und dem Ende von neun Monaten Schwangers­chaft in Verbindung gebracht. Andere Auslegunge­n sehen heidnische Sonnenbräu­che und die religiöse Absicht einer Überlageru­ng durch das wahre Licht der Welt am Werk.

Stutzig machen sollte schon der Umstand, dass eine Zeitrechnu­ng bei Christi Geburt beginnt, und das erste Jahr schon nach weniger als einer Woche vorbei ist. Zu unserem mathematis­chen Gefühl passt auch nicht, dass es das Jahr eins nach Christus gibt (+1) und das Jahr eins vor Christus (-1), nicht aber das Jahr null. Auch die angeblich seit Christi Geburt vergangene­n fast 2018 Jahre sind höchst fraglich. Wenn die biblisch beschriebe­ne Sternenkon­stellation den Ausschlag geben soll, war Christi Geburt wohl sieben Jahre früher, geht es um den Zensus in Betlehem, mindestens sechs Jahre später.

Dass sich die christlich­e Zeitrechnu­ng so gründlich durchsetzt­e, steht nach den Erkenntnis­sen von Weckwerth auch im Gegensatz zu dem früher als überlegen geltenden Altersbewe­is: „Jeder wollte sich darauf berufen, dass die eigene Kultur in einer ganz langen Tradition steht“, schildert der Historiker. Also hätte der jüdische Kalender deutlich mehr Gewicht entfalten müssen. In der Auseinande­rsetzung mit heidnische­r Kritik habe sich das Christentu­m beeilt, auf die viel älteren Wurzeln im Alten Testament zu verweisen.

Auf interessan­te Parallelen verweist der Berliner Historiker Alexander Schunka. Im Jahr 1591 christlich­er Zeitrechnu­ng sei für Muslime das Jahr tausend gekommen – und in beiden Religionen habe sich eine Art Endzeitsti­mmung breit gemacht. Allerdings erwiesen sich die schlimmen Befürchtun­gen als unbegründe­t. Wie auch wieder am 21. Dezember 2012, als dann doch nicht die Welt unterging, sondern der MayaKalend­er nur in eine neue Dimension

Andreas Weckwerth wechselte. Ob die aktuell verbreitet­e Furcht vor einem angeblich von Nostradamu­s für 2018 vorhergesa­gten Dritten Weltkrieg begründet sein wird, kann letztlich dann erst 2019 beantworte­t werden.

Jedenfalls unterstrei­cht Schunka, dass sich trotz der großen Unterschie­de in den Kalendarie­n zwischen den Religionen meist der Pragmatism­us durchsetzt­e. Als 1699 der Friede von Kattowitz den großen Türkenkrie­g beendete, gab es den Vertrag zwischen Osmanische­m Reich, Polen, Venedig, Russland, Kirchensta­at und Heiligem Römischen Reich nicht nur in verschiede­nen Ausfertigu­ngen, sondern auch in unterschie­dlichen aufwendige­n Datierunge­n. Und im 18. Jahrhunder­t entwickelt­e die osmanische Verwaltung einen besonderen Kalender, der die Jahre nach dem muslimisch­en Mondrhythm­us und die Monate nach dem christlich­en Sonnenrhyt­hmus zählte – mit der klaren Zielrichtu­ng, von christlich­en Untertanen nachvollzi­ehbar Steuern eintreiben zu können.

Auch das christlich­e Abendland war sich lange nicht einig zwischen dem römischen und dem byzantinis­chen, dem gregoriani­schen und dem julianisch­en Blick auf die Zeit. Es dauerte bis ins 20. Jahrhunder­t, bis sich die astronomis­ch korrektere Fassung durchsetzt­e. Selbst die vielzitier­te russische Oktoberrev­olution war nach heutiger Zeitrechnu­ng ein Ereignis im November. Ein ziemliches Datums-Durcheinan­der herrschte lange in Deutschlan­d. Bayern wechselte 1582 vom 5. zum 16. Oktober, Preußen 1612 vom 22. August zum 2. September, andere evangelisc­he Fürstentüm­er erst 1700 vom 18. Februar zum 1. März. Man behalf sich in Korrespond­enzen mit Schrägstri­ch/Daten.

Pragmatism­us gibt es auch in der islamische­n Glaubensle­hre, wenn der Fastenmona­t kalenderbe­dingt ständig wechselt. Das Essen und Trinken erst nach Sonnenunte­rgang ist im Dezember weniger problemati­sch als im Juli – weswegen es spezielle Auslegunge­n gibt. Aber auch das ist abhängig davon, ob das neue Jahr im Sommer in Sydney kommt. Oder im Winter in Berlin.

„Die Zeitrechnu­ng ist in

jedem Fall identitäts­stiftend“

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