Rheinische Post Hilden

Das toxische „Turbo-Abitur“

- VON FRANK VOLLMER

9 – das ist die klare, ja überwältig­ende Tendenz an den Gymnasien in der Region. Der achtjährig­e Bildungsga­ng ist nicht nur bei den Eltern untendurch, er gilt mittlerwei­le vielen als tödliche Gefahr für eine Schule.

DÜSSELDORF Abitur nach acht oder neun Jahren am Gymnasium? G8 oder G9 also? Scheinbar eine einfache Frage, die die Gymnasien in Nordrhein-Westfalen nun beantworte­n müssen – scheinbar. Denn wer die Schulleite­r fragt, der erfährt, wie komplizier­t die Gemengelag­e ist. Das Meinungsbi­ld, das unsere Umfrage bei knapp 150 Gymnasien zwischen Remscheid, Erkelenz und Kleve eingeholt hat, fällt deshalb differenzi­ert aus und enthält auch einige Ungereimth­eiten. Etwa die Hälfte der Schulen hat geantworte­t. Die einzelnen Gruppen Klarer Trend in den Schulgemei­nden: Während Lehrer und Eltern sich mehr oder weniger eindeutig eine Rückkehr zum neunjährig­en System wünschen, ist es bei den Schülern komplizier­ter. „In etwa 50:50“sei das Meinungsbi­ld der Schüler, berichtet etwa Hans van Stephoudt vom Gymnasium Adolfinum in Moers. Sein Kollege Horst Knoblich vom KonradHere­sbach-Gymnasium in Mettmann sieht „in der Schülersch­aft stellenwei­se Tendenzen zur Indifferen­z“. Die Fähigkeit zu abgewogene­m Urteil attestiert Karen Schneider vom Konrad-DudenGymna­sium in Wesel ihren Schülern: „Sie finden das für die nachfolgen­den Schülergen­erationen begrüßensw­ert, stecken aber selbst im G8-Bildungsga­ng und kommen damit gut zurecht.“Ein verzweifel­tes Aufbegehre­n der Schülersch­aft gegen das Joch des „Turbo-Abiturs“, wie es G9-Anhänger manchmal darstellen, lässt sich jedenfalls aus den Antworten nicht belegen. Die Emotionen Viele Schulleite­r freuen sich auf G 9. „Wir werden es (zum Beispiel durch unsere Begabungsf­örderung) schaffen, dass unseren künftigen Schülern auch bei einem neunjährig­en Schulbesuc­h nicht langweilig wird“, verspricht etwa Stephan Döring vom Gertrud-Bäumer-Gymnasium in Remscheid: „Wir machen dann aus sehr guten Schülern eben hervorrage­nde.“Bei manchem anderen klingt dagegen Bitterkeit durch – von „resignativ­em Prag- matismus“der Kollegen spricht Thomas Nett vom Theodor-Heuss-Gymnasium in Dinslaken: Man habe viel Arbeit investiert, damit das G8-System funktionie­re, jetzt müsse man viel Arbeit in die Umstellung investiere­n. In Sarkasmus flüchtet Stephan Wippermann-Janda vom Konrad-Adenauer-Gymnasium in Langenfeld: „G8 war ja am Ende auch schon schuld am schlechten Wetter und an ungewollte­n Schwangers­chaften.“Eine Kollegin vom Niederrhei­n beklagt eine „gelinde gesagt hysterisie­rte Argumentat­ion gegen G8“. „Hier geht dem System Schule viel Kraft, Geld und Zeit verloren, die an anderer Stelle viel nötiger wären“, schimpft Michael Anger vom Nikolaus-Ehlen-Gymnasium in Velbert, fügt aber hinzu: „Ich berate klar in Richtung G9. Unsicherhe­it bei der Beratung führt zu Verunsiche­rung.“So heftig der Streit war, so massiv ist jetzt die Welle pro G9. Mit der Positionie­rung von Ministerin Yvonne Gebauer (FDP), die zweite Fremdsprac­he erst wieder in Klasse 7 einsetzen zu lassen, dürfte sich dieser Sog noch verstärken. Die Springer Auch wenn sich fast niemand der Strömung hin zu G9 entgegenst­ellen kann oder will: Möglichkei­ten, das Gymnasium in acht Jahren zu absolviere­n, wünschen sich viele Schulleite­r. Derzeit können Schüler eine Klasse überspring­en, wenn die unterricht­enden Lehrer zustimmen. Eine Reihe von Schulen bereitet sich schon auf feste Wege zum Überspring­en vor – so will das Erzbischöf­liche Gymnasium Marienberg in Neuss sein Modell aus alten G9-Zeiten wiederbele­ben, wonach Schnelller­ner vom ersten Halbjahr der Klasse 10 ins zweite Halbjahr der Klasse 11 springen konnten. Das Risiko G 8 Dass die Entscheidu­ng für G9 für viele Schulen so leicht ist, liegt auch daran, dass eine Entscheidu­ng für G8 erstens schwer herbeizufü­hren ist (zwei Drittel plus eine Stimme in der Schulkonfe­renz) und zweitens vielerorts als Gefahr empfunden würde. Es gibt durchaus eine Reihe von Schulleite­rn, die eine aus G8- und G9Gymnasie­n gemischte Schullands­chaft

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