Rheinische Post Hilden

Freie Fahrt für die Sozialpoli­tiker

- VON GREGOR MAYNTZ

Solidarren­te, Baukinderg­eld, Landarzt-Garantie – die nächste große Koalition soll gegen die soziale Verunsiche­rung kämpfen.

BERLIN Minus fünf, minus sieben, minus zehn. Es sind diese Zahlen, die bei den Hauptakteu­ren der nun auch offiziell gestartete­n Sondierung­en zwischen SPD und Union unsichtbar über dem Verhandlun­gstisch schweben. Sie beziffern die Verluste der Parteien von Martin Schulz, Angela Merkel und Horst Seehofer bei der Bundestags­wahl in Prozentpun­kten. Die Konsequenz­en aus ihren persönlich­en Wahlnachle­sen bestimmten bereits die vertraulic­hen Vorgespräc­he der Parteispit­zen. Und jetzt weisen sie auf die Ergebnisse der fünftägige­n Power-Sondierung­en hin.

Seit dem Wahlschock gibt CSUChef Horst Seehofer vor, dass der nächste Koalitions­vertrag in Berlin eine „Wir haben verstanden“-Botschaft auf möglichst vielen Seiten enthalten müsse. Vor den CSU-Abgeordnet­en in der Winterklau­sur von Seeon wurde er konkreter: Natürlich habe auch die Flüchtling­spolitik den Wahlkampf mitbestimm­t. Aber die Stimmung gegen die regierende große Koalition und deren Parteien sei wegen einer massiven sozialen Verunsiche­rung gekippt. Pflege, Rente und Miete nannte Seehofer als herausrage­nde Stichwörte­r.

Der Neuanfang soll deshalb vor allem den unteren und mittleren Einkommen gelten und ihren Empfängern bessere Lebenspers­pektiven eröffnen. Das heißt: weitgehend freie Fahrt für die Sozialpoli­tiker aller drei Parteien. Denn auch Angela Merkel steckt die Konfrontat­ion in einer Wahlsendun­g mit einer Frau sicherlich noch in den Knochen, die nach einem aufreibend­en Arbeitsle- ben mit 600 Euro Rente abgespeist wird. Wahrschein­lich kommen deshalb Konzepte zum Tragen, die das System des Aufstocken­s in der Sozialvers­icherung effektiver machen. Die von der SPD favorisier­te Solidarren­te dürfte relativ zügig von allen Seiten akzeptiert werden – jedenfalls im Prinzip. Und auch wer arbeitsunf­ähig wird, soll künftig nicht mehr mit Mini-Rente die Familie in Armut stürzen müssen.

Dagegen hat die von der SPD favorisier­te Bürgervers­icherung nach Signalen von CDU und CSU keine Chancen. Anders als bei der ersten großen Koalition 2005 wird es auch kein Hilfskonst­rukt geben, das am Ende der Regierungs­zeit bereits Vorarbeite­n für die eine oder andere Umorganisa­tion des Gesundheit­ssystems geleistet haben soll. Die im Alltag zu erlebende Zwei-KlassenMed­izin zwischen privat und gesetzlich Versichert­en gehört gleichwohl zu den Befunden, mit denen sich Protestwah­len begründen lassen. Deshalb ist zu erwarten, dass die gesetzlich­en Leistungen deutlich verbessert werden. Eine „Land- arzt-Garantie“gehörte bereits zu den Vorhaben, auf die sich die Jamaika-Verhandler verständig­t hatten. Die Groko-Sondierer werden dahinter nicht zurückblei­ben.

Sie dürften auch ein „Sofortprog­ramm Pflege“übernehmen und die eklatanten Defizite in der Pflegeausb­ildung aus dem Weg räumen. In diesem Zusammenha­ng ist zu erwarten, dass die jüngere Generation auch von finanziell­en Belastunge­n befreit wird und die Kinder unterhalb eines Jahreseink­ommens von zum Beispiel 100.000 Euro nicht mehr für ihre pflegebedü­rftigen Eltern zur Kasse gebeten werden.

Erfahrene Abgeordnet­e vergleiche­n vielfach die Perspektiv­en der heutigen mit früheren Generation­en. Dass ein Alleinverd­iener Partner, Kinder, Wohnung und Auto finanziere­n konnte, gehörte früher zum Selbstvers­tändnis des Mittelstan­des. Heute reichen in vielen Regionen selbst zwei Gehälter nicht mehr aus, um angemessen­en Wohnraum zu finden. Eine nächste Groko wird hier massiv nachlegen und neben einer Kindergeld­erhöhung auch mehr Wohnungen bauen und ein Baukinderg­eld einführen müssen.

Das Flüchtling­sthema wird nach den Signalen aus den Vorgespräc­hen der Parteispit­zen drei Schwerpunk­te bekommen: gesteuerte Migration jenseits der Asylwege durch ein Einwanderu­ngsgesetz, mehr Druck auf die EU und Herkunftsl­änder, um Flüchtling­e besser zu verteilen und schneller zurückzusc­hicken, und Erhalt sowie Ausbau bestehende­r Hürden.

Gerade beim Streit um den Familienna­chzug für Flüchtling­e wird sich schon bald zeigen, ob Union und SPD die Groko-Neuauflage wollen. Mitte März kehrt der Nachzugsan­spruch für Familien von subsidiär Geschützte­n zurück. Wenn die erst 2015 eingeführt­e Möglichkei­t ausgesetzt bleiben soll, muss der Gesetzentw­urf bereits in Kürze von den Fraktionen in den Bundestag eingebrach­t werden, für eine Regierungs­initiative ist es bereits zu spät. Hierbei erinnert die Union die Sozialdemo­kraten daran, die Aussetzung seinerzeit mitgetrage­n zu haben. An den Umständen habe sich seitdem nichts geändert.

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FOTO: DPA Damit sie keiner sehen kann, haben die Organisato­ren von SPD und Union Folie auf die Fenster in den Sitzungsrä­umen des Willy-Brandt-Hauses geklebt.

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