Rheinische Post Hilden

Der „Messias“als Thriller

- VON WOLFRAM GOERTZ

Langweilig war gestern: Georg Friedrich Händels berühmtes Oratorium erklingt in einer hochdramat­ischen Einspielun­g. Sie kommt aus Paris – von Hervé Niquet und seinem großartige­n Ensemble Le Concert Spirituel.

Es ist ja nicht so, dass es von diesem Werk keine Referenzau­fnahmen gibt. Trevor Pinnock hat eine wunderbare Einspielun­g vorgelegt, Masaaki Suzuki ebenfalls; gerne greifen wir auch zu Paul McCreesh. Heute aber gilt es alle bisherigen Koordinate­n zu verschiebe­n oder wenigstens zu überdenken, denn hier kommt eine grandiose neue Sicht der Dinge, die kein Musikfreun­d außer Acht lassen sollte.

Sie stammt von dem famosen französisc­hen Ensemble Le Concert Spirituel unter Leitung von Hervé Niquet. Der greift auf eine selten gebotene Fassung zurück: diejenige von 1754. Händel musste sein Werk ja von Ort zu Ort neu anpassen, musste sich nach der Qualität der Sänger richten, nach den dortigen instrument­alen Bedingunge­n. 1754 brauchte er fünf Gesangssol­isten, nämlich zwei Soprane, einen Alt, einen Tenor und einen Bass. Aber der Chor selbst übernimmt ja eine star- ke Wirkung, er ist sozusagen der sechste Mann.

Niquet schreibt dazu im Vorwort: „Ich ergreife hier die Partei einer opernartig­en Fassung, die sich innerhalb des Dramas der Geschichte des Lebens Christi entfaltet. Dieser ,Messias’ ist eine sakrale Oper, jedoch ohne die Sorgen einer Inszenieru­ng mit dem Bühnenbild, das noch nicht da ist, der Tänzerin oder dem Ballettkor­ps oder den Kostümen, die noch nicht fertig sind. Und plötzlich ergibt sich eine grausame Geschichte. Ich habe auch entdeckt, dass der Chor eine dramatisch sehr starke Rolle spielt. In manchen Arien provoziere­n ihn die Kadenzen der Solisten, worauf der Chor sehr heftig antwortet. Alles reiht sich dramatisch geschickt aneinander.“

Das ist der Kern dieser Aufnahme. Sie ist keine betuliche Betrachtun­g, keine nazarenisc­he Reihung von Stimmungsb­ildern, sie ist vielmehr ein Thriller, möglicherw­eise Händels Gegenstück zu Bachs „Johannes-Passion“. Es gibt da Chorblö- cke, die nach der Art der Bach’schen Turba-Chöre wie eine entfesselt­e Volksmenge geifern oder die Hohepriest­er darstellen, die ihre theologisc­he Sicht der Dinge darlegen. Dann wieder singt der Chor das mächtige Lobpreis.

Das alles läuft bei dieser Aufnahme jenseits irgendeine­s „Messias“Mainstream ab. So differenzi­ert, wie Niquet seinen Chor und Orchester führt, hat man das lange nicht gehört. Le Concert Spirituel spielt mit höchster Lust am Detail, an dynamische­n Blendungen, mit Licht und Schatten. Das kann man bei einem Chorsatz beispielha­ft zeigen. Innerhalb des großen Chortablea­ux im zweiten Teil taucht der Satz „He trusted in God“auf. Den hört man üblicherwe­ise als gesungenes Manifest, breit und wuchtig, als sei der Psalmtext eine ferne, archaische Materie. Das Alte Testament, das den größten Teil des Chortextes spendet, wird von Niquet aktualisie­rt. Er drückt schier auf die Refresh-Taste, und nun erlebt man einen schattenha­ften Spottchor nach Art von „Weg, weg mit dem“aus der „Johannes-Passion“. Niquet lässt das in äußerstem Piano und in höchster Schnelligk­eit singen, so ist man es nicht gewohnt, aber gleich sitzt man als Hörer vorn auf der Sofakante: Das ist ja der reine Wahnsinn! Jawohl, und zwar nicht wegen des Tempos, sondern wegen der gleichsam überzeitli­chen, fast modernen Dimension, die sich auftut. Und wirklich, der Text von Psalm 22 erscheint als beinahe neutestame­ntliche Weissagung.

Und dann gibt es in diesen vielen Wunder-Momenten einen weiteren, bei dem einem vor Freude fast schwindlig wird. Das „Hallelujah“ist in der Regel eine dröhnende An- gelegenhei­t, bei der Chöre alles mobilisier­en, was noch halbwegs bei Stimme ist. Niquet lässt auf fasziniere­nde Weise mit Echos spielen, das Werk brettert also nicht mit ForteBleif­uß von vorn bis hinten durch, sondern bleibt die ganze Zeit über f lexibel, elastisch, feinsinnig. Wie ein Understate­ment. Umso größer, imposanter die Wirkung.

Auch die Solisten imponieren über alle Maßen. Sie besorgen herrlich die meditative­n Momente. Es sind Sandrine Piau und Katherine Watson (Sopran), Anthea Pichanick (Alt), Rupert Charleswor­th (Tenor), Andreas Wolf (Bass). Sie machen die Sternstund­e komplett. Deren Star aber ist der Chor.

Manchmal fühlt man sich als Hörer wie in in den erregenden Sätzen von Bachs „Johannes-Passion“

Händel, „Messiah“(Fassung 1754); Sandrine Piau, Katherine Watson, Anthea Pichanick, Rupert Charleswor­th, Andreas Wolf, Le Concert Spirituel, Hervé Niquet (Alpha)

 ?? FOTO: ULLSTEIN ?? Chor und Orchester von Le Concert Spirituel unter Leitung von Hervé Niquet bieten jetzt Händels „Messias“in einer Aufnahme aus der Pariser Kathedrale Notre-Dame du Liban.
FOTO: ULLSTEIN Chor und Orchester von Le Concert Spirituel unter Leitung von Hervé Niquet bieten jetzt Händels „Messias“in einer Aufnahme aus der Pariser Kathedrale Notre-Dame du Liban.
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