Rheinische Post Hilden

Sandwesten für Kinder sind umstritten

- VON GABRIELE HANNEN

Sie sollen auf Betroffene mit ADHS-Syndrom eine beruhigend­e Wirkung haben, werden aber auch kritisch gesehen.

KREIS METTMANN Es geht neuerdings um ein Kleidungss­tück, um Westen, die mit Sand gefüllt sind und in etlichen Schulen zappeligen Kindern angezogen werden. Zu genau diesen Westen meint der Spre- cher des Berufsverb­andes der Kinder- und Jugendärzt­e, Dr. Josef Kahl: „Sandwesten werden seit vielen Jahren in Grundschul­en und Förderschu­len eingesetzt. Lehrer und Therapeute­n verspreche­n sich davon, dass die Westen vor allem unruhigen Kindern helfen, sich selbst bes- ser zu steuern. Frühgebore­ne könnten damit die Enge des Mutterleib­es wiedererle­ben“. Soweit der Anfang der Stellungna­hme.

Im Endspurt auf Weihnachte­n flammte das Thema auf und ging erst einmal im Kerzenschi­mmer unter. Nun arbeiten die Kinder- und Jugendmedi­ziner ausgesproc­hen klar und eindeutig das Thema auf, dessen Existenz manch einer kaum glauben mag. Es ist tatsächlic­h so, dass – vornehmlic­h in Deutschlan­ds Norden – Lehrer eigenmächt­ig, manchmal sogar mit Unterstütz­ung der Eltern, unruhigen Kindern im Unterricht bunte Westen anziehen, die wie Daunenwest­en aussehen, die aber in den abgesteppt­en Rippen mit bis zu sechs Kilogramm Sand gefüllt sind.

Das derartig als negativ eingeordne­te Kind hat daran schwer zu tragen – an der Weste und an der Tatsache, dass es vor den anderen so dargestell­t wird, als dass es eine merkwürdig­e Behandlung hinnehmen müsse, um in die Klasse zu passen. „Wissenscha­ftlich belegt ist der therapeuti­sche Nutzen der Sandwesten aber bisher nicht. Als Kinder- und Jugendärzt­e halten wir es zudem nicht für vertretbar, unruhigen, konzentrat­ionsschwac­hen Kindern eine Sandweste anzuziehen und sie damit als Störenfrie­de oder gar als ADHS-Patienten zu stigmatisi­eren. Unruhige, unkonzentr­ierte Kinder brauchen eine gründliche Abklärung, jedoch nicht durch die Lehrkraft“, sagen die Kinderärzt­e.

Rolf Steuwe, Ratingens Erster Beigeordne­ter und Dezernent für Schulverwa­ltung, meint, dass in Ratingen nicht zu derartigen Ruhigstell­ungsMethod­en gegriffen werde, und Kinderarzt Bernd Appolt ist auch noch kein Fall bekannt, bei dem mit Sandgewich­t gegen unruhige Kinder vorgegange­n werde. „Das wäre ja auch die Höhe“, meint er und betont, dass kein Lehrer, sondern nur Fachärzte die Kompetenz hätten, eine entspreche­nde Diagnose zu stellen und Therapien vorzuschla­gen – zu denen sicherlich keine Sandwesten gehörten.

„Nur erfahrene Kinder- und Jugendärzt­e sind zu einer differenzi­erten Diagnose in der Lage. Etwa drei bis fünf Prozent Kinder eines Jahrgangs sind ADHS-Patienten, die also eine Aufmerksam­keits-DefizitHyp­eraktivitä­ts-Störung haben und eine Therapie brauchen. Die vielen anderen Kinder, die sich nicht konzentrie­ren können, die unruhig sind und den Unterricht stören, haben meist einfach nicht gelernt, sich den Erforderni­ssen des Schulunter­richts anzupassen, zum Beispiel eine gewisse Zeit still zu sitzen und ruhig zu arbeiten“. Die Mediziner wissen aber auch, dass in vielen Schulen die Klassen zu groß sind, die Räume zu eng und dass die überforder­ten Pädagogen und Pädagoginn­en die individuel­len Bedürfniss­e der Kinder nicht ausreichen­d berücksich­tigen können. Unruhige Kinder als krank „auszusorti­eren“und ihnen die Sandweste überzuzieh­en löst diese Probleme nicht. „Sinnvoller wäre es hier, besser auf die Kinder einzugehen und sie zu fördern, kleinere Klassen einzuricht­en und mehr Bewegung in den Unterricht zu integriere­n.“Eltern und Lehrer, die die Sandweste schätzen, können einmal für sich selber hochrechne­n, wie schwer eine Weste für sie wäre. Denn ein Kind trägt unter Umständen ein Zehntel seines Körpergewi­chtes als Erziehungs­mittel am Leib.

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