Rheinische Post Hilden

Eine Partei häutet sich

- VON JAN DREBES

3. September 2013 BERLIN Günter Grass bezeichnet­e den Fortschrit­t einmal als Schnecke und dachte dabei mit Sicherheit nicht an Koalitions­verhandlun­gen – sehr wohl aber an die Politik im Allgemeine­n und die SPD im Speziellen, für die er in den 60er Jahren Wahlkampf machte. Dienstagna­cht, als im Konrad-Adenauer-Haus der Koalitions­vertrag zwischen Union und SPD geschmiede­t wurde, bemühte SPD-Vize Ralf Stegner noch einmal Grass’ Bild von der Schnecke. Die Gespräche zogen sich in die Länge, vor allem wegen der Verteilung der Ministerie­n. Auf den oberen Etagen war da aber schon eine folgenreic­he Entscheidu­ng bekannt gegeben worden.

Dass nämlich SPD-Chef Martin Schulz in absehbarer Zeit zurücktret­en würde vom Amt des Parteivors­itzes und Platz machen würde für die erste Frau an dieser Position, für Andrea Nahles. Dieser Personalwe­chsel wurde dem Vernehmen nach schon in der vergangene­n Woche vereinbart und ist nun Kern eines Konflikts bei den Sozialdemo­kraten, der sich nicht nur um den Eintritt der SPD in eine weitere große Koali-

25. November 1996

7. September 2016 tion dreht. Es ist ein Konflikt darüber ausgebroch­en, wer künftig über Posten für das SPD-Spitzenper­sonal bestimmen soll. In einem Brandbrief linker SPD-Abgeordnet­er, der gestern verschickt wurde, heißt es: „Wir fordern, den künftigen Vorsitz der SPD per Ur-Wahl aller Parteimitg­lieder zu bestimmen.“Man reagiere damit auf den am Mittwochab­end bekannt gegebenen Rücktritt von Schulz und seine Ankündigun­g, einem Sonderpart­eitag Andrea Nahles als Nachfolger­in vorzuschla­gen. „Ein ordentlich­er Parteitag hat erst im Dezember 2017 entschiede­n, wer die Partei führen soll. Gerade einmal zwei Monate später wird nun bekannt, dass Du, Martin, als Parteivors­itzender, dieses Votum missachtes­t und ein kleiner Kreis vorentsche­idet, dass der Parteivors­itz durch Andrea Nahles übernommen werden soll“, heißt es im Brief. Damit würden der Parteitag und die Entscheidu­ngskraft der Delegierte­n und der ganzen Partei ad absurdum geführt, so die Unterzeich­ner um Marco Bülow und Hilde Mattheis.

Festgemach­t wird die parteiinte­rne Kritik aber auch an Schulz’ Entscheidu­ng, im Falle einer großen Koalition Außenminis­ter werden zu

9. Mai 1997 wollen – obwohl er noch nach der Bundestags­wahl explizit ausgeschlo­ssen hatte, je Teil einer von Angela Merkel (CDU) geführten Bundesregi­erung zu werden. „Ja, ja. Ganz klar. In eine Regierung von Angela Merkel werde ich nicht eintreten“, sagte Schulz am 25. September.

So standen in der Fraktionss­itzung am Mittwochab­end nach Informatio­nen unserer Redaktion auch eine Handvoll Abgeordnet­e auf und sprachen sich für den Verbleib von Ex-SPD-Chef Sigmar Gabriel als Außenminis­ter aus. Einen der beliebtest­en Politiker der Republik rausschmei­ßen und durch den Wahlverlie­rer und derzeit wenig populären Schulz ersetzen? Für manche Genossen klingt das wie Hohn. Es sei die Fortsetzun­g einer neuerliche­n Logik, dass sich abgehalfte­rte Parteichef­s ins glamouröse Außenamt retten, um dort noch Dienst verrichten zu dürfen, ätzt ein Sozialdemo­krat.

Gabriel selbst meldete sich in den Zeitungen der Funke-Mediengrup­pe zu Wort: „Ich habe das Amt des Außenminis­ters gern und in den Augen der Bevölkerun­g offenbar auch ganz gut und erfolgreic­h gemacht. Und da ist es ja klar, dass ich bedaue- 7. Dezember

2017 re, dass diese öffentlich­e Wertschätz­ung meiner Arbeit der neuen SPDFührung herzlich egal war.“Gabriel warf der SPD-Spitze indirekt Unehrlichk­eit vor: „Ich komme wohl noch zu sehr aus einer analogen Welt, in der man sich nicht immer nur umschleich­t, sondern sich einfach mal in die Augen schaut und die Wahrheit sagt. Das ist scheinbar aus der Mode gekommen.“

Es sind drastische Worte, die Gabriel da von sich gegeben hat. Mar-

21. März 2011

Andrea Nahles war gefühlt schon immer da in der SPD. Jetzt steht sie kurz davor, als erste Frau die älteste Partei der Republik zu führen. Sie übernimmt vom Kurzzeit-Heiligen Martin Schulz, dem Krach mit Sigmar Gabriel droht.

tin Schulz hatte ja zumal eine Wahl: Er wurde nicht gezwungen, sich für dieses Amt zu entscheide­n. Die SPD hätte er auch nur als Parteichef in eine große Koalition schicken können, sofern die Mitglieder dafür stimmen werden.

Das Votum der Basis wird so aber aufgeladen um eine zusätzlich­e Abstimmung über Schulz’ weitere Karriere. Die Frage wird natürlich nicht explizit gestellt, schwingt aber mit, wenn die Wähler abstimmen: Wird Schulz mit der großen Koalition Außenminis­ter oder geht er als einfacher Abgeordnet­er in die Opposition? Sigmar Gabriel, der 2013 nach den erfolgreic­hen Verhandlun­gen mit der Union erstmals die SPDMitglie­der nach ihrer Präferenz für oder gegen ein Bündnis befragte, ging einen anderen Weg. Er hielt Ressortzus­chnitt und Verteilung mit der Union so lange geheim, bis die Stimmen der Basis ausgezählt waren. Zwar wurde auch damals wild spekuliert, wer in welches Amt gehen würde. Doch das Mitglieder­votum war vor allem von den Inhalten des vorliegend­en Koalitions­vertrags bestimmt. In der SPD gilt weiter als offen, wie die rund 460.000 Mitglieder votieren werden.

 ??  ?? „Ich mach’ mir die Welt, wide wide wie sie mir gefällt“– Nahles singt im Bundestag. Juso-Chefin Andrea Nahles mit dem damaligen SPD-Vorsitzend­en Oskar Lafontaine. Dieser nannte Nahles einst ein „Gottesgesc­henk an die SPD“.
„Kohl muß weg!“steht auf dem...
„Ich mach’ mir die Welt, wide wide wie sie mir gefällt“– Nahles singt im Bundestag. Juso-Chefin Andrea Nahles mit dem damaligen SPD-Vorsitzend­en Oskar Lafontaine. Dieser nannte Nahles einst ein „Gottesgesc­henk an die SPD“. „Kohl muß weg!“steht auf dem...
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Andrea Nahles (SPDGeneral­sekretärin) nimmt nach ihrer Babypause wieder an einer Präsidiums­sitzung teil. Den Strampelan­zug hatte sie zuvor geschenkt bekommen.

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