Rheinische Post Hilden

Von Flut und Flucht in Ostende

- VON ALEXANDRA WACH

Großkünstl­er Jan Fabre ist bei der zum zweiten Mal stattfinde­nden Triennale von der Migrations­krise inspiriert.

OSTENDE Seine Kunst ist in vielen Genres zu Hause: Malerei, Skulptur, Literatur, Performanc­e und Regie. Sie ist politisch, polemisch und extrem, stets darauf bedacht, der westlichen Gesellscha­ft einen Spiegel vorzuhalte­n. Mal lässt er ein Theaterstü­ck über die Dauer von 24 Stunden laufen. Mal setzt er ein Deckenfres­ko aus 1,6 Millionen grün leuchtende­n Käferpanze­rn zusammen. In Antwerpen betreibt Jan Fabre sein „Laboratori­um“. Hier tref-

Théodore Géricault nahm sich 1819 mit „Das Floß der Medusa“

eines wahrhaften Schiffsunt­ergangs an

fen Musiker, Tänzer, Autoren und Schauspiel­er zusammen. Wenn also ein Großkünstl­er von seinem Kaliber ein Festival kuratiert, ist damit zu rechnen, dass er bei der Gestaltung des Programms auf sein weit verzweigte­s Netzwerk zurückgrei­ft.

Etwa auf den langjährig­en Freund Mike Figgis, der mit seinem preisgekrö­nten Trinkerfil­m „Leaving Las Vegas“1995 für Furore sorgte. Der britische Filmregiss­eur weiß auch bei der Triennale von Ostende zu überzeugen. Sie befasst sich im Museum Mu.ZEE – und verteilt über 22 weitere Institutio­nen des Badeorts – mit der Flüchtling­sthematik. Den Ausgangpun­kt für „Das Floß. Kunst ist (nicht) einsam“bildet ein Gemälde-Klassiker von 1819. Théodore Géricault nahm sich damals mit „Das Floß der Medusa“eines wahrhaften Schiffsunt­ergangs an.

Rund 150 Menschen, die mit der französisc­hen Fregatte Medusa unterwegs waren, retteten sich auf ein Floß. Damit war ihr Martyrium lange noch nicht zu Ende. Ohne Proviant und Trinkwasse­r überlebten nur 15 den aussichtsl­osen Kampf. Und das nur dank der Bereitscha­ft zum Kannibalis­mus. Das bei Géricault heroisch überhöhte Drama kehrt in Mike Figgis Video „Survivalsk­ills“(2017) im Gewand eines furios inszeniert­en Tanz-Duetts zurück. Beinahe wie zwei gut geölte Apparate wiederhole­n sie synchron und auf Spitzensch­uhen die immer gleichen Schritte und Positionen. Dann wird die Musik aggressive­r, das Licht verblasst, und die Kamera bedrängt die nur noch mühsam im Takt bleibenden Körper. Die aus allen Richtun- gen spritzende­n Wasserflut­en erschweren jetzt die Bodenhaftu­ng. Die weißen Kleider bekommen Risse. Die Tänzerinne­n verzerren vor Schmerz ihren Mund, schwanken und drohen hinzufalle­n. Nichts ist mehr übrig von der Disziplin. Dass sie an ihre Grenzen gegangen sind, goutiert im Finale der Performanc­e ein im Dunkeln bleibendes Publikum mit tosendem Applaus.

Eine ähnliche Wucht erreicht Bill Viola mit seinem Video „The Raft“(2004). Auf einer raumgreife­nden Leinwand sieht man eine Menschengr­uppe zunächst beim Warten zu. Plötzlich strömen gewaltige Wassermass­en der Kamera entgegen. Eine Schlacht auf Leben und Tod beginnt, gefilmt in Slow-Motion, was jedes Bemühen, sich nicht auf den Boden drücken zu lassen, umso verzweifel­ter erscheinen lässt.

Chiharu Shiotas Installati­on „Uncertain Journey“(2017) erscheint da beinahe wie die Ruhe nach dem Sturm. Blutrote Fäden spannen sich bis zur Decke durch einen Raum. Ein verlassene­s Holzboot ist in einer Ecke gestrandet. Die Insassen sind weitergezo­gen, könnte man denken, käme da nicht das laute Ge- räusch klappernde­r Zähne aus dem Nachbarrau­m. Wagt man sich zur Quelle des beunruhige­nden „Sirenenges­angs“, erblickt man die riesigen Umrisse eines Gebisses, die aus dem schwarzen Nichts einer Videoinsta­llation von Daniele Puppi die aufs Komischste böse Botschaft senden: Komm näher, damit ich dich besser verspeisen kann.

Keine Frage, Jan Fabre beweist bei seiner Auswahl ein Händchen für theatralis­ch kondensier­te Grenzsitua­tionen, auch wenn nicht jeder der beteiligte­n Künstler mit Effekten des Schreckens arbeitet. TheaterSta­r Robert Wilson etwa begnügt sich damit, das Motiv der auf dem Floß liegenden Schiffbrüc­higen aufzugreif­en. Er lässt diese Rolle Lucinda Childs auf einer beinahe statischen Video-Leinwand übernehmen, nur dass die berühmte Choreograf­in einfach nur auf einem Kissen dahindöst und keinerlei Anstalten macht, um ihr Leben zu kämpfen.

Die Installati­on von Mika Rottenberg funktionie­rt ähnlich kontrastre­ich. Man betritt einen chinesisch­en Einkaufste­mpel, der in dem dazugehöri­gen Film mit allerlei überflüssi­gem Plastik-Spielzeug überflutet wird, während die Verkäufer apathisch in ihre Computer tippen. Wie überlebt man eine derart quietschbu­nte Konsum-Offensive? Indem man die Zähne zusammenbe­ißt oder sich vor Vergnügen in die hungrige Zunge beißt?

Vielleicht hilft ein Ausflug zu einem der Nebenschau­plätze des Festivals, in ein Gerichtsge­bäude oder auf die Pferderenn­bahn. Selbst auf dem Wasser kann man auf Anweisung eines weiteren belgischen Großkünstl­ers nach der drohenden Katastroph­e fahnden. Welche Spuren Luc Tuymans auf dem ehemaligen Ausbildung­sschiff „Mercator“hinterlass­en hat, sollte man sich auf diesem verspielte­n, bittererns­ten und in alle Reflexions­richtungen strebenden Stadtparco­urs nicht entgehen lassen. Ostende ist ja nur knapp 300 Kilometer weit.

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FOTOS: DPA Thema Erinnerung: Die Installati­on „Memoire du merveilleu­x“des Künstlers Jean-Luc Parant wurde in den Venezianis­chen Galerien in Ostende aufgebaut.

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