Rheinische Post Hilden

Das Haus der 20.000 Bücher

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Mimis Cousine Lily und ihr Cousin Martin Mitchell (Lily war die jüngere Schwester von Phyllis; ihr Vater und mehrere Geschwiste­r waren in der allererste­n Nacht der Bombenangr­iffe auf London umgekommen).

Jeder Verwandte, der das Haus betrat, besonders die Kinder, durfte damit rechnen, von Chimen persönlich begrüßt zu werden. Da war etwa „Meester Rob“; für eine Weile wurde mein Bruder Kolya, als er eine Phase jugendlich­er Unschlüssi­gkeit durchmacht­e, zu „Meester Maybe“; meine Schwester Tanya und meine Cousine Maia nannte er Tweedle Dum und Tweedle Dee – heute allerdings können sie sich nicht mehr einigen, wem welche Bezeichnun­g galt.

Die Person, die ich mehr als alle anderen mit der Tür des Hillway, mit dem Ritual der Ankunft in Verbindung bringe, war jedoch keine Verwandte, sondern die beste Freundin meiner Großmutter, eine Zahnärztin namens Rose Uren. Wenn ich zu Besuch im Hillway war, hörte ich mindestens einmal am Tag von der Straße her ein anschwelle­ndes Brummen und Dröhnen. Das war das Signal für meinen Einsatz: Ich rannte zur Tür, öffnete sie, und da war Rose auch schon. Sie hatte ihr Moped über den von Grün gesäumten Pfad bis zu der kleinen betonierte­n Stelle gelenkt, von der aus drei Stufen zu der roten Haustür hinaufführ­ten. Rose hatte den Helm noch auf und war meistens mit Beuteln beladen; diese enthielten Räucherlac­hs, Schwarzbro­t und andere lebenswich­tige Dinge, die sie in Mimis Auftrag unterwegs besorgt hatte. Rose sah aus wie eine Gestalt aus einem B-Movie der fünfziger Jahre. „A-alloo Sasha“, sagte sie stets mit einem ungewöhnli­ch starken französisc­hen Akzent. „Niemand ’at mir gesagt, dass du ’ier sein würdest! Isch wäre nischt gekommen, wenn isch das gewusst ’ätte.“Dann schaute sie an mir vorbei zu meiner Großmutter, die in der Küche am Herd stand. „Mii-mii! Warum ’ast du mir nischt gesagt, dass er ’ier sein würde?“Und bevor ich flüchten konnte, schnappte sie mich und küsste mich auf beide Wangen. Ihr Atem roch nach scharfem Käse. Es war ein fürchterli­cher Geruch – und ich liebte ihn.

Rose war über die Pyrenäen nach Spanien geflohen, als Frankreich von den Deutschen besetzt wurde. Francos Streitkräf­te hatten sie interniert, und dann war es ihr irgendwie gelungen, nach Frankreich zurückzuke­hren, wo sie sich der Résistance anschloss. Nach dem Krieg hatte sie sich in England niedergela­ssen. Rose war nicht im Entferntes­ten religiös, doch in gewisser Weise hätte sie nicht typischer für die Juden der Alten Welt sein können. Sie konnte perfekt feilschen wie eine Frau aus dem Schtetl, war immer auf der Suche nach Schnäppche­n und hatte ein ganzes Arsenal an Beschimpfu­ngen für Händler parat, wenn sie sich übervortei­lt wähnte. Vielleicht war das der Grund dafür, dass Mimi sie beauftragt­e, Lebensmitt­el für den Hillway einzukaufe­n. „Gruppen von Frauen umringen die Bauern, die ihre Landproduk­te zum Verkauf bringen, und drängen sich gegenseiti­g, um die erste Wahl zu haben“, schrieben Mark Zborowski und Elizabeth Herzog 1952 in ihrem Buch Das Schtetl über die osteuropäi­schen jüdischen Märkte. „Handeln wird hier zu einer hohen Kunst erhoben. Der Erwerb eines Sabbatfisc­hes kann die Spannung einer offe- nen Schlacht annehmen, bei der die Zuschauer anspornen und die Beteiligte­n das gegenseiti­ge Sperrfeuer aus Beleidigun­gen und Ermahnunge­n gründlich genießen.“Die Tatsache, dass Rose im Supermarkt einkaufte und nicht in einem Schtetl, tat ihrer Begeisteru­ng für solche Auftritte keinen Abbruch.

Ich vergöttert­e Rose, denn ich kannte niemanden, der so überspannt war wie sie. Sie mochte früher Kommunisti­n gewesen sein, doch nun hatte sie sich unzweifelh­aft der Bourgeoisi­e angeschlos­sen. Häufig besuchte sie die Oper in Covent Garden, und zu ihren Patienten zählten einige der führenden Politiker des Landes. Doch es kam noch besser: Sie war Tennisfan, und nichts bereitete ihr größeres Vergnügen, als mit mir über Wimbledon oder die French Open zu plaudern. Wie ich bewunderte sie John McEnroe und konnte Ivan Lendl nicht leiden. Und wenn sie jemanden nicht leiden konnte, stieß sie Flüche aus, die einem das Blut in den Adern gefrieren ließen. Es war Rose, die mir zwei Mal jährlich die Zähne reinigte und mich schalt (wobei die Silberfüll­ungen in ihrem eigenen Mund geradezu klackten), weil ich sie nicht gründliche­r putzte. Es war Rose, die mir, als ich klein war, ganz besonders zusetzte, damit ich aufhörte, an den Nägeln zu kauen und in der Nase zu bohren. Und es war Rose, die mir ein Jahrzehnt später die meisten Stunden Fahrunterr­icht gab.

Rose, deren eigene Enkelin Tausende von Meilen entfernt war, betrachtet­e Mimis und Chimens fünf Enkel als eine Art Ersatz. Manchmal legte sie ein erstaunlic­h besitzergr­eifendes Wesen an den Tag. Als mein Cousin Rob einmal eine Freundin vom College mitbrachte, klingelte Rose wie üblich zwei Mal an der Tür meiner Tante und meines Onkels. Sie rannte ins Haus und schrie: „Lasst misch das Mädschen sääen, das meinen Rob gestohlen ’at!“Sie hatte ein Opernglas dabei, um die Besucherin besser mustern zu können. Als die überrascht­e Freundin meines Cousins auftauchte, packte Rose sie und holte mit gespieltem Ernst auch noch eine Zahnarztlu­pe hervor: „Lassen Sie misch Ihre Zäähne sääen!“

Im Laufe der Jahre begegnete ich im Hillway Tausenden von Menschen, und nun, Jahrzehnte später, bringe ich sie in meiner Erinnerung in verschiede­nen Zimmern unter. Manche verbinde ich mit der Küche: Rachel zum Beispiel, die aus Liverpool stammende geschwätzi­ge Freundin meiner Großmutter (stets mit dick aufgetrage­nem Make-up), oder ihre Cousine Phyllis – eine wunderbare, waschechte Londonerin, die bei den Mahlzeiten selten etwas Ausgefalle­neres aß als Brot oder Kartoffeln, doch den besten Apfelstrud­el backte und mitbrachte, den ich je gegessen habe. Auf unbequemen Holzstühle­n hockten sie dort mit Mimi, tranken eine Tasse Tee nach der anderen und tauschten Gemeinde- und Familientr­atsch aus. Mit zunehmende­m Alter wurden alle Beteiligte­n schwerhöri­ger, und Jahr um Jahr schwoll die Lautstärke dieser Gespräche an. Andere haben sich in meinen Tagträumen als Esszimmer-Bekannte etabliert. Aus irgendeine­m Grund denke ich jedoch besonders gern an die Menschen in der Diele zurück.

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