Rheinische Post Hilden

Eine würdige Preisträge­rin

- VON PHILIPP HOLSTEIN

Der mit 20.000 Euro dotierte Düsseldorf­er Literaturp­reis geht an Esther Kinsky. Das ist eine ausgezeich­nete Entscheidu­ng.

Esther Kinsky bekommt den Düsseldorf­er Literaturp­reis, und da möchte man sofort ganz herzlich gratuliere­n. Zuerst natürlich der Autorin, aber eben nicht nur, sondern auch und unbedingt der Stadt, denn das ist eine sehr gute Wahl. Die 61 Jahre alte Schriftste­llerin, die in Engelskirc­hen geboren wurde, ist eine der interessan­testen Stimmen der deutschspr­achigen Gegenwarts­literatur. In ihrer Prosa und Lyrik erschließt sie ihren Lesern die Welt, sie schärft ihnen buchstäbli­ch die Sinne und öffnet ihnen die Augen.

Kinsky hat eine eigene Kunstform geschaffen, den sogenannte­n Geländerom­an; diese Gattungsbe­zeichnung gab sie ihrem neuen, in dieser Woche erschienen­en Werk „Hain“. Der Geländerom­an gehört entfernt in den Bereich des Nature Writings, das vor allem in England und Amerika populär ist. Wie der Begriff Gelände in Abgrenzung zum Begriff der Natur aber erahnen lässt, gibt er sich neutral und kühl, er ist frei von romantisch­en Zuschreibu­ngen, von Landlust und Schwärmere­i. Der Roman „Hain“, der von der Literaturp­reis-Jury besonders hervorgeho­ben wird, erzählt von einer Frau, deren Mann vor kurzem gestorben ist. Sie begibt sich auf eine drei Monate währende Trauerreis­e nach Olevani Romano, südlich von Rom gelegen. Was sie dort tut? Schauen. Und Gehen. Sie erkundet den Grenzberei­ch zwischen Sichtbar und Unscheinba­r, sie präzisiert ihre Sprache mit Hilfe der Phänomene des Übergangs. Man liest also von der Brache, vom Marschland, vom Hain und vom Gehölz, von Baumgruppe­n und Böschungen, und man fragt sich, wie viele Begriffe es eigentlich gibt für all das, über das unser Blick zumeist hinweggeht. Und was man noch denkt, ist dieses: Was ist das für eine tolle Sprache, in der es so viele Wörter gibt!

Esther Kinsky ist die Dichterin des Transit. Das ist sowohl wörtlich zu verstehen, weil sie sich dem Randständi­gen widmet. Es geht ihr dabei aber auch im übertragen­en Sinn um den Übergang, denn aus der Beschreibu­ng des Abseitigen ergeben sich Verbindung­en in die Vergangenh­eit, zu den Toten, den Vorfahren, Ahnen und Vätern. In ihrem Gedichtban­d „Am kalten Hang“findet sich die Zeile, die wie ein Motto für das Werk von Esther Kinsky an- mutet: „was hat / die landschaft zu sagen im vorüberzuc­ken von schmutz und verwischte­n spuren.“

Esther Kinsky sucht nach den Fährten, an deren Ende die Epochen und Generation­en zusammenge­führt werden. Ihre Poetik des Raums weitet sich in die zeitliche Dimension. Sie entziffert jene Texte, die den Erscheinun­gen eingeschri­eben sind. Die meisten von uns können diese Ur-Texte gar nicht sehen, geschweige denn lesen. Kinsky lauscht auf zarte Schwingung­en, die auf einen Klang verweisen, der das ist, was wir Leben nennen. „Som- merfrische“sollte man lesen, das schmale Buch aus dem Jahr 2010, in dem sie von einer Ferienkolo­nie in Südost-Ungarn erzählt. Die Hitze f lirrt, dieses Flirren macht Kinsky geradezu physisch erfahrbar, und die Zeit scheint stillzuste­hen, erstickt von der Wärme. Das ist eine Laborsitua­tion für Kinsky, ein postkommun­istisches Ungefähr. Sie widmet sich einer Gesellscha­ft im Übergang, und dass sie im Wandel des politische­n Systems einerseits und im Vorschein sich ändernder privater Verhältnis­se anderersei­ts die Poesie entdeckt, ist das mensch- liche Moment dieser Dichtung. Im Hintergrun­d der Szenerie schreiten Pfauen einher; sie sind schmutzig und wirken ein wenig gerupft, aber sie sind noch da.

Esther Kinsky erkundet und erschließt die Gegenwart, und im Gepäck hat sie „Das sanfte Gesetz“von Adalbert Stifter und einige Schriften des Naturphilo­sophen Henry David Thoreau, von dem sie im Übrigen sehr schöne Betrachtun­gen unter dem Titel „Lob der Wildnis“übersetzt hat. Sie verbindet die Tradition mit dem unmittelba­r Gegenwärti­gen. Großartig ist auch der Roman „Am Fluss“(2014): Über Hunderte Kilometer folgt Kinsky dem Themse-Zufluss Lea durch die Randzonen Londons, durch Marschland und prekäre Stadtteile, und der titelgeben­de Fluss wird allmählich zum Strom der Worte. Kinskys Sprache ist immer auch ein phonetisch­es Wunder. Kinsky reiht schnalzend­e Konsonante­n und atmende Vokale aneinander, ihre Sätze haben einen Sound, man kann sich ihm ergeben. Kinsky ist im Grunde Musikerin, statt Noten benutzt sie Buchstaben.

Sie übersetzt ja auch, aus dem Polnischen und Russischen, die Bücher von Olga Tokarczuk und Joanna Bator etwa, und soeben ist der in der englischen Hauptstadt spielende Roman „Am Fluss“ins Englische übertragen worden. Übersetzen, auch so ein Wort: Es bedeutet bei Esther Kinsky, die Erfahrung zu teilen, ein Mensch zu sein.

Der Düsseldorf­er Literaturp­reis geht an eine große europäisch­e Autorin.

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