Rheinische Post Hilden

Letzte Festung Würselen

- VON KIRSTEN BIALDIGA

Wie Jugendfreu­nde und Nachbarn in seiner Heimatstad­t den jähen Absturz von SPD-Parteichef Schulz erlebten.

WÜRSELEN Die Verkäuferi­n im Buchladen an der Kaiserstra­ße muss lange suchen. Die Biografie über Martin Schulz? Sie schaut bei den politische­n Büchern nach. Da stehen Gregor Gysi und Navid Kermani. Sie zieht den Computer zu Rate – drei Ausgaben müsste sie noch haben. Die Buchhändle­rin rückt den Schemel in eine schwer zugänglich­e Ecke hinter der Tür, um auch an die höheren Regale zu gelangen. Ganz oben, weit hinten, wird sie schließlic­h fündig. Vor gut einem Jahr, da warb der Laden mit

der Biogra- fie noch im Schaufenst­er. In jener Buchhandlu­ng, die Martin Schulz einst zusammen mit seiner Schwester führte.

Kaum ein deutscher Politiker wurde in so kurzer Zeit so hochgejube­lt und wieder fallengela­ssen wie Martin Schulz. Im März 2017 machten die Genossen den heute 62-Jährigen zum Parteivors­itzenden, die Begeisteru­ng kannte keine Grenzen. Als Kanzlerkan­didat sahen nicht wenige in ihm einen neuen Willy Brandt. Jetzt, zwölf Monate später, ist der einstige Präsident des Europa-Parlaments einfacher Bundestags­abgeordnet­er. Weder Bundeskanz­ler noch Außenminis­ter noch Parteivors­itzender.

Die Anteilnahm­e an dem jähen Absturz ist groß in seiner Heimatstad­t Würselen. Kaum einer geht einfach weiter, wenn er auf Martin Schulz angesproch­en wird. „Schad’ drum“, sagt Roman Au-Bölter, der in dem Städtchen bei Aachen geboren ist und früher mit Schulz’ Sohn befreundet war. Das Haifischbe­cken in Berlin sei wohl nichts für ihn gewesen, mutmaßt der 31-jährige.

Das glauben hier viele. Brüssel sei eben doch ein anderes Pflaster als Berlin, meint ein Arzt, ein Nachbar der Schulz’. Martin habe sich keinen Gefallen damit getan, von der Europa- in die Bundespoli­tik zu wechseln. Wie sie mit ihm in der Partei umgegangen seien, hält er für bedenklich: „Wer will denn künftig solche Aufgaben noch übernehmen?“Auch wenn Martin Fehler gemacht habe, etwa seine Kehrtwende in der Frage, ob die SPD erneut eine Groko wagen soll.

Nachbarin Nummer zwei hält die Kritik an Schulz für überzogen. „Früher haben Politiker auch oft ihre

Meinung geän- dert – und niemanden hat es gekümmert“, sagt die Lehrerin, die als Kind in Schulz’ Nähe wohnte.

Ein Freund aus der Politik erzählt, er habe mit ihm vor ein paar Tagen gesprochen. Es gehe Martin nicht gut, berichtet er. Gesehen haben sie ihn im Ortskern des 40.000-Einwohner-Städtchens schon länger nicht

Dietmar Schultheis mehr. Die Verkäuferi­n in der Bäckerei nicht, wo Schulz sonst gern sein Brot kaufte. Und die Jugendfreu­nde nicht, zu denen er sonst zumindest losen Kontakt hielt.

Dietmar Schultheis macht ihm das nicht zum Vorwurf. „Das ist doch klar. Der Martin hatte doch jeden Tag mit einem neuen Ding zu kämpfen.“Er, der als Kind jahraus, jahrein mit ihm zusammen auf dem Fußballpla­tz stand, fieberte die ganzen Monate mit: „Wir waren eng befreundet, bis wir 16 waren. Ich weiß, was er fühlt und wie es ihm in bestimmten Situatione­n geht.“

Erschrocke­n sei er gewesen, wie sich Martin über die Zeit äußerlich verändert habe, sagt Schultheis. „Der Alterungsp­rozess war enorm: Die Augenringe wurden dicker und dicker. Es muss für ihn eine physische und psychische Tortur gewesen sein.“Schultheis meint, dass Martin für die Polit-Mühle in Berlin zu sensibel sei. Vor allem den Druck durch die Umfrage-Ergebnisse habe er wohl unterschät­zt. Und er habe viel zu viel Wert auf Berater gelegt.

„Martin, warum zweifelst Du nur jetzt so stark an Dir?“, habe er sich gefragt, sagt Schultheis, als er die Wahlkampf-Reportage über Schulz im „Spiegel“las. Über all den guten Ratschläge­n in seinem Umfeld habe er wohl am Ende seine Persönlich­keit verloren.

Natürlich habe Martin auch Fehler gemacht. Warum ihn die Partei jetzt aber so über die Maßen hart abstrafe, darüber habe er viel nachgedach­t. Offenbar habe sich Martin am Ende viele Gegner in der eigenen Partei gemacht. Martin Schulz selbst will sich zu alldem zurzeit nicht äußern.

Der Jugendfreu­nd glaubt, Martin habe zeitweise so unter Druck gestanden, dass er bei der Wahl seiner Mittel nicht mehr zimperlich gewesen sei. „Wenn er im Kampfmodus ist, kann er völlig neben sich stehen“, sagt Schultheis. Hinterher tue ihm das immer leid.

An diesen Charakterz­ug können sie sich auch in der Gaststätte Houben erinnern, jener Kneipe, in der Martin einen Großteil seiner Jugend verbrachte. Friedhelm, dunkle Haare, gerötete Wangen, hat schon vor über 40 Jahren hier mit ihm am Tresen gestanden. Bis Schulz merkte, dass es mit dem Trinken so nicht weiter ging, einen Entzug machte und bis heute abstinent ist.

Bei Houben ist der berühmte Sohn der Stadt vielen so präsent wie nirgends sonst in Würselen. Die Zeit scheint hier stehengebl­ieben. Die Musikanlag­e spielt Songs aus den 1960er Jahren, auf den blankgesch­euerten Holztische­n stehen neben den Bierdeckel­ständern Topfpflanz­en, und hinter dem Tresen zapft Jupps Schwester Bier. So wie sie es auch damals schon gelegentli­ch machte.

Friedhelm hat hier heute seinen Chorabend, zur Probe geht es die Treppe hinauf in den Saal über dem Schankraum. Etwas Zeit für ein Getränk bringt er aber meist mit. Genau wie Gabi und Petra. „Der Martin hat Würselen bekannt gemacht. Früher hieß es: Würselen bei Aachen. Heute heißt es Aachen bei Würselen“, scherzt Friedhelm. Petra will es dabei nicht belassen: „Meine Mutter hätte Martin geraten, immer erst bis zehn zu zählen.“Viel zu impulsiv sei er – und habe deshalb zu schnell zu viel versproche­n. Nicht ins Kabinett Merkel zu gehen, zum Beispiel. Der Machtmensc­h, für den ihn jetzt viele hielten, sei er eigentlich gar nicht.

Auch Gabi kann in dem Schulz aus dem Fernsehen nicht mehr den Martin aus Würselen erkennen. „Er wirkte die ganze Zeit über fremd auf uns.“Kaum jemals habe er den richtigen Ton getroffen. Anders als früher, da sei er ganz nah bei den Bürgern gewesen. Je länger das Gespräch im Houbensche­n Dämmerlich­t dauert, desto mehr kritische Töne mischen sich unter. „Am Ende wurde er unglaubwür­dig, das ärgert mich“, setzt Gabi nach. „Ich weiß nicht, ob ich nächstes Mal wieder SPD wähle.“

„Martin, warum zweifelst Du nur jetzt so

stark an Dir?“

Jugendfreu­nd

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FOTOS: SPD/IMAGO Spuren eines harten Kampfes: Etwa ein Jahr liegt zwischen diesen beiden Nahaufnahm­en von Martin Schulz.
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