Rheinische Post Hilden

Zwei Jahre nach den „Chaostagen“

- VON GREGOR MAYNTZ

Ein Nigerianer, ein Iraker, sieben vollstreck­te Haftbefehl­e – ein Tag auf Streife mit den Bundespoli­zisten an der Grenze bei Passau.

PASSAU Der Zug fährt ein, die Schrift auf der Anzeigenta­fel läuft bereits: „Bitte erst einsteigen, wenn die polizeilic­hen Ermittlung­en abgeschlos­sen sind.“Vier Polizei-Teams steigen vorne, hinten und in der Mitte in den ICE, sofort schließen sich die Türen wieder. Systematis­ch durchkämme­n sie die Abteile. Was in jeder anderen deutschen Stadt auf einen spektakulä­ren Polizeiein­satz deuten würde, ist in Passau Alltag.

Die Bundespoli­zei nimmt hier jeden Zug unter die Lupe. Und das seit Herbst 2015. Es ist nicht nur der Bahnhof, es ist auch die Autobahn, es sind die Landstraße­n, und per Hubschraub­er werden sogar die Güterzüge mit Wärmebildk­ameras überflogen. So sieht das nüchterne Stichwort „Wiedereinf­ührung der Kontrollen“im Alltag des deutschöst­erreichisc­hen Grenzraume­s aus.

Der ICE darf alle Türen öffnen. Keine Vorkommnis­se. Aber am Nachbargle­is haben zwei Polizisten einen Nigerianer aus einem Regionalzu­g geholt. Keine Papiere. Offenbar ein Untergetau­chter. Er kommt in eine riesige Halle, in der früher Lkw umgebaut wurden. Jetzt gibt es hier fünf „Bearbeitun­gslinien“. Aufgegriff­ene werden durchsucht, anhand ihrer Fingerabdr­ücke erfasst und mit polizeilic­hen Listen verglichen, dann intensiv befragt. Wenn die Polizei die Linien hochfährt, schafft sie hier 3600 Fälle am Tag. Weil alle bei der Bundespoli­zei im Raum Passau „24/7“arbeiten. Das heißt 24 Stunden am Tag, sieben Tage in der Woche. Also immer.

Doch heute haben es die Beamten hier nur mit dem Nigerianer aus dem Regionalzu­g und mit einem Iraker aus dem Nachtzug zu tun. Drei „Linien“sind komplett versiegelt, eine ist stets zur Aufnahme bereit, eine dient der Reserve. Reserve ist wichtig in Passau. Denn den Bundespoli­zisten steckt noch in den Knochen, was sich hier vor gerade mal 29 Monaten abspielte.

Die Entwicklun­g war eindeutig, schon seit Jahren: 826 illegale Grenzübert­ritte 2012, dann 1430 im folgenden und 4876 im darauffolg­enden Jahr. Die Bundespoli­zei organisier­te sich deshalb neu, fuhr die Kapazitäte­n hoch. Und wurde trotzdem überrollt. Was sie in ganz 2014 mit 4876 Flüchtling­en an den An- schlag brachte, verzeichne­te sie im Frühsommer 2015 binnen eines einzigen Monats. Und es kam noch schlimmer. Allein in Passau wurden an einem Septembert­ag 8500 Flüchtling­e gezählt.

„Chaosphase“nennt Hauptkommi­ssar Frank Koller diese Wochen. Die Bilder aus Achleiten gehen ihm nicht aus dem Kopf. „Das war das Schlimmste, was ich je erlebt habe.“2000 Kinder, Frauen und Männer hinter einer provisoris­chen Absperrung. 50 lassen die Beamten pro Stunde durch, weil sie mehr nicht bewältigt bekommen. Aber hinten laden österreich­ische Busse ständig mehr ab. Die Ankunftsza­hlen in Passau spiegeln die internatio­nalen Zusammenhä­nge. Im Oktober 2015 kamen noch 88.000 über die Straßen aus Österreich, im März 2016 noch 1800. Heute sind es zwei. Aber eigentlich einer, denn der Nigerianer befand sich bereits im Land.

Im Monatsschn­itt hat es sich 2018 auf 200 illegale Grenzübert­ritte eingepende­lt. Davon werden inzwischen mehr als die Hälfte zurückgewi­esen. Weil sie in Österreich vor einer drohenden Abschiebun­g untertauch­ten und sich nach Norden durchzusch­lagen versuchten oder weil sie bei den Befragunge­n erkennbar kein Asyl wollen.

Und dann gibt es noch die, die als EU-Bürger einreisen – und dann Asyl beantragen. In Passau sprechen die Beamten von „Überwinter­ern“. Eigentlich lassen die offenen Grenzen von Schengen keinen Stopp zu. Doch wenn die angebliche­n „Touristen“ganz viel Gepäck und ganz wenig Geld dabei haben, können auch sie zurückgesc­hickt werden.

Die eigentlich­e Grenze ist offen. Scheinbar schaut niemand hin. Doch plötzlich gibt ein unscheinba­rer BMW vom Standstrei­fen aus Gas, hängt sich die Zivilstrei­fe an einen Mercedes der E-Klasse mit serbischen Kennzeiche­n, zieht ihn in einen Versorgung­sweg, der von der Autobahn abgeht. Zwei junge Männer in Jogginganz­ügen sitzen in dem Fahrzeug, das blitzsaube­r und ganz leer ist. Autoschieb­er? Die Personalie­n sind schnell mit der länderüber­greifenden Polizeidat­ei Inpol verglichen. Und auch für die Fahrzeugte­ile existieren Hersteller­listen. Minutiös vergleiche­n die Bundespoli­zisten, ob der Rahmen zum Motor passt, der Kofferraum zu den Scheiben. Nach einer halben Stunde dürfen

Hauptkommi­ssar Frank Koller die Serben wieder los. Ein paar Kilometer weiter ist die nächste Kontrolle. Ganz gleich, ob sie die Ausfahrt nehmen oder auf der Autobahn bleiben: Rund um die Uhr schauen sich Beamte hier jedes Fahrzeug an.

Die meisten werden durchgewun­ken. Aber immer wieder geht die Kelle hoch. Besonders wenn es Kastenwage­n sind oder verdunkelt­e Scheiben das genaue Hinschauen verhindern. Dann übernehmen Kollegen auf dem Parkplatz Rottach-Ost. Da ist der polnische Fahrer, der seinen Transportw­agen mit Rohren und Werkzeug vollgepack­t hat. Eine Leiter wackelt lose neben seinem Kopf. Kein Ding für die Bundespoli­zisten. Darum kümmert sich die bayerische Landespoli­zei.

Das übliche Zuständigk­eitsevange­lium der deutschen Behördenst­rukturen gilt hier nicht. Die Landespoli­zei ist in die Kontrollst­elle voll integriert und der Bundespoli- zei unterstell­t. Und wenn dann plötzlich Landesaufg­aben gefragt werden, beenden die integriert­en Kollegen die Unterstell­ung und werden als Landesbeam­te tätig. Praktisch, zügig, unbürokrat­isch.

Die Bundespoli­zisten interessie­ren sich nicht für die Leiter, sondern für die drei Ungarn auf der Rückbank. Alle drei sind wegen Einbruchsd­elikten vorbestraf­t, gegen einen läuft sogar noch ein Verfahren. Er kommt zur intensiven Befragung in einen Bürocontai­ner. Derweil wird auch ein Kosovare gestoppt und bei der Überprüfun­g festgestel­lt, dass es gegen ihn einen Haftbefehl gibt – eine Geldstrafe von 230 Euro ist offen. Er zückt sein Portemonna­ie, unterschre­ibt – und kann weiterfahr­en.

So ergeht es an diesem Tag auch einer Serbin (231 Euro), einem Rumänen (975 Euro) und einem anderen Serben (1680 Euro). Gegen drei weitere Rumänen bestehen ebenfalls Haftbefehl­e. Aber sie können das Geld nicht bezahlen, werden deshalb in die Passauer Justizvoll­zugsanstal­t eingeliefe­rt.

Die weitere Tagesbilan­z: Ein Niederländ­er muss seinen verbotenen Elektrosch­ocker rausrücken, eine Russin wird mit hundert Hanfpflanz­en dem Zoll übergeben. Es gibt also vieles, was Politiker zuweilen als „Beifang“bezeichnen. Aber wenig, wozu die Bundespoli­zei eigentlich hier ist. Mit riesigem Aufwand. Zu groß für die Inspektion Passau. Deshalb kommt die Verstärkun­g aus der ganzen Republik. Schließlic­h sind allein im Raum Passau 200 Beamte ständig im Dienst. In zwei ZwölfStund­en-Schichten. Bei Wind und Eis und Regen und Schnee.

Gerade übernehmen sächsische Beamte eine von einem halben Dutzend mobiler Kontrollen. Nächste Woche werden sie abgelöst von Kollegen aus Schleswig-Holstein. Sie alle machen sich keine Illusionen, dass der kräftezehr­ende Einsatz noch lange weitergeht. Die Ausnahmege­nehmigung für die Grenzkontr­ollen werde die EU schon erteilen, wenn in anderen Grenzabsch­nitten die Zahl der Flüchtling­e über die Mittelmeer­route zunimmt. Und vor den bayerische­n Landtagswa­hlen ist bestimmt nicht Schluss. Besonders dann nicht, wenn die CSU demnächst auch den Bundesinne­nminister stellt.

„Das war das Schlimmste, was ich je

erlebt habe“

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FOTO: MAYNTZ Bundespoli­zisten haben einen Nigerianer ohne Papiere aus einem Zug geholt und bringen ihn am Bahnhof Passau zur Identitäts­feststellu­ng.

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