Heilerziehungspfleger müssen zuverlässig sein
Zuhören, unterstützen, anleiten: Heilerziehungspfleger begleiten Menschen mit Behinderung. Sie fördern die Entwicklung und sind Vertrauensperson.
Montag hatte Nicole einen schlechten Tag bei der Arbeit – und das Ergebnis sieht man zwei Tage später noch als Abdruck auf ihrem Arm. Sie hat sich selbst gebissen. Verspürt sie starken Stress, macht sie das manchmal zum Druckab- bau. „Ich war bei der Arbeit in der Umkleide und wollte mich gerade umziehen, da wollte jemand anderes auch da rein“, erzählt sie. Als der Mensch vor der Tür immer weiter drängelte, geriet sie in Aufregung. Am Ende tat sie sich selbst weh.
An Tagen wie diesen ist Heilerziehungspfleger Richard Fröbel (40) besonders gefragt. Kommt Nicole von der Arbeit in die betreute Wohngemeinschaft zurück, erzählt sie ihm von ihren Sorgen. „Manchmal ist es gar nicht so einfach, herauszufinden, was passiert ist“, sagt er.
Zusammen mit einer Kollegin betreut Fröbel eine Wohn- gemeinschaft in Berlin-Lichtenberg mit fünf Menschen mit einer leichten, geistigen Lernbeeinträchtigung. Astrid, Nicole, Isabell, Gerry und Florian leben zum Teil schon seit rund zehn Jahren zusammen – so lange kennt Richard sie auch. Alle Fünf haben nur ein leichtes Handicap. Deshalb sind sie in der Lage, alleine zu wohnen; Richard und seine Kollegin sind unter der Woche am Nachmittag und am Wochenende den ganzen Tag da. Trotzdem merkt jeder Besucher sofort, dass die Bewohner dieser Wohngemeinschaft Hilfe brauchen. Dank Heilerziehungspflegern gelingt es ihnen, ein möglichst selbstständiges Leben zu führen.
Nicole würde kaum jemand auf den ersten Blick ansehen, dass sie ein Handicap hat. Sie ist 31 Jahre alt, eher klein, hat braune kurze Haare, eine fliederfarbene Brille und trägt ein Hörgerät. Man merkt es erst, wenn man ihr zuhört: Jetzt sitzt sie zum Beispiel in der Küche neben Richard, schält Möhren für das Abendessen und erzählt, wer in der Wohngemeinschaft lebt und was die einzelnen Mitbewohner arbeiten.
Heilerziehungspfleger arbeiten nicht nur ambulant wie Richard in Wohngemeinschaften von Menschen mit Handicap. Sie sind auch in Behindertenwerkstätten, Kliniken, Kitas und Wohnheimen tätig. Rund 7,6 Millionen Menschen mit einer Schwerbehinderung leben nach Angaben des Statistischen Bundesamts in Deutschland. Und viele brauchen Hilfe von Heilerziehungspflegern.
Die Arbeit unterscheidet sich dabei je nach Arbeitsplatz. Während bei Menschen mit mehreren Beeinträchtigungen, die zum Beispiel auch im Rollstuhl sitzen, häufig die Pflege im Vordergrund steht, geht es bei Richard im ambulanten Bereich viel darum, die Selbstständigkeit zu fördern.
„Der Heilerziehungspfleger ist so etwas wie das Schweizer Taschenmesser der Behindertenpflege“, sagt Frank-Michael Eschert, Vorsitzender der Bundesarbeitsgemeinschaft der Ausbildungsstätten für Heilerziehungspflege in Deutschland. Wie das Schweizer Taschenmesser mit Lupe, Korkenzieher und Schere zahlreiche Funktionen hat, so übernehme auch der Heilerziehungspfleger mehrere Aufgaben. Andere Mitarbeitende in der Behindertenhilfe sind häufig nur für Teilbereiche zuständig: Kita-Erzieher kümmern sich vorwiegend um die Erziehung kleiner Kinder, Altenpfleger nehmen vor allem die Pflege wahr. Der Heilerziehungspfleger kümmert sich dagegen um alle Lebensbereiche von Menschen mit Einschränkungen – und betreut noch dazu Menschen jeder Altersklasse.
Auch deshalb sind die Voraussetzungen für die Ausbildung hoch. Wer sich dafür interessiert, braucht entweder eine in der Regel zweijährige berufliche Grundausbildung oder eine Hochschulzugangsberechtigung mit Vorpraktikumszeiten. Die Ausbildung variiert je nach Bundesland. Entweder besuchen angehende Heilerziehungspfleger zwei Jahre die Schule und machen hinterher ein Anerkennungsjahr bei einem Träger. Alternativ dauert die Ausbildung drei Jahre – und die praktischen Anteile sind integriert. In einigen Bundesländern ist die Ausbildung außerdem kostenpflichtig, angehende Heilerziehungspfleger müssen dann ein Schulgeld bezahlen.
„Man braucht für den Beruf auf jeden Fall Geduld“, sagt Richard. Isabell hat letztens trotz einer Spastik gelernt, ihre Fingernägel selbst zu schneiden. Da müsse man es gemeinsam einfach immer wieder probieren, erzählt er. Und man sollte zuverlässig sein. Heilerziehungspfleger sind für Menschen mit Handicap wichtige Bezugspersonen. Zu seinen Aussagen nicht zu stehen: In Richards Beruf geht so etwas nicht. Die fünf Bewohner zählen auf ihn – bei Problemen bei der Arbeit, aber auch bei der Organisation der WG. „Da muss ich Euch manchmal ganz schön motivieren – etwa Ein- kaufen gehen, was? Das macht ihr nicht so gern“, sagt Richard. Nicole kichert los.
Wer sich für die Ausbildung entscheidet, wird sich im Wesentlichen mit drei Schwerpunkten befassen. Primär geht es um das Thema individuelle Teilhabe und Pädagogik: Wie bringt man jemandem bei, einen Einkaufszettel zu schreiben oder Essen zu kochen? Ein weiterer Schwerpunkt liegt im Thema Pflege, und schließlich gibt es rechtlich-organisatorische Fragestellungen. Man sollte auf jeden Fall vorab ein Praktikum machen, um zu testen, ob der Beruf einem liegt, sagt Eschert.
Reich wird man in dem Job nicht. „Berufseinsteiger verdienen etwa 2400 Euro brutto“, sagt Eschert. Zehn Jahre später sei man, je nach Tarifwerk, etwa bei 3100 Euro brutto. Auch die Aufstiegsmöglichkeiten sind begrenzt. Es gibt zwar die Möglichkeit, eine Leitungsfunktion in einer Einrichtung zu übernehmen. Dafür brauche es heute jedoch häufig ein Studium.
Richard Fröbel ist in seinem Beruf trotzdem froh. Seit zehn Jahren betreut er die Wohngemeinschaft, viele der Bewohner sind seit dem Start gleich geblieben. „Es ist gar nicht so einfach, ein harmonisches WG-Leben zu organisieren“, sagt er. Aber die Beziehungen zu seinen Klienten geben ihm viel zurück. „Das ist eine sehr herzliche, humorvolle, abwechslungsreiche Arbeit“, erzählt Richard. Er sieht, wie sie selbstständiger werden. Florian wird im Laufe des nächsten Jahres ausziehen und alleine leben können. Richard und seine Kollegin haben einen wesentlichen Anteil daran.