Rheinische Post Hilden

Italiens faschistis­che Altlasten

- VON JULIUS MÜLLER-MEININGEN

den Parlaments­wahlen in dieser Woche erlebt Italien eine Welle der Gewalt. Der Konflikt zwischen linksund rechtsradi­kalen Gruppen hat Tradition. Hinzu kommen eine hohe Jugendarbe­itslosigke­it und Einwandere­r.

ROM Wer an Turin, Palermo, Perugia, Bologna, Macerata, Mailand denkt, hat Bilder bezaubernd­er Orte italienisc­hen Lebensgefü­hls im Kopf. In diesen Tagen sehen die Bilder dort anders aus. Eine Woche vor der Parlaments­wahl in Italien demonstrie­ren zehntausen­de Menschen in verschiede­nen Städten des Landes. Schon in den vergangene­n Tagen kam es dabei zu zahlreiche­n teils lebensgefä­hrlichen Angriffen. Der Wahlkampf wird begleitet von einer Welle der Gewalt. Woher rührt sie?

Opfer der Angriffe waren Ausländer, Polizisten, Neofaschis­ten oder Linksextre­misten. Die Täter sind beinahe ausschließ­lich den letzten beiden Kategorien zuzuordnen. Italien erlebt brutale Gewalttate­n von Linksund Rechtsradi­kalen. Auch am Wochenende kam es wieder zu Ausschreit­ungen, wenn auch in geringerem Umfang.

Extremiste­n haben Konjunktur. Wie auch in Deutschlan­d zu beobachten ist, stärkt die fortwähren­de Kooperatio­n der früher rivalisier­enden Volksparte­ien die politische­n Ränder. In Italien gibt es dabei aber eine historisch­e Besonderhe­it.

Seit mehr als 70 Jahren schleppt das südeuropäi­sche Land ein Problem mit sich herum, das in diesen Tagen deutlicher als sonst sichtbar wird. Nie wurde die Ära des italienisc­hen Faschismus unter Diktator Benito Mussolini grundsätzl­ich aufgearbei­tet. Rechtskons­ervative Politiker rühmen bis heute öffentlich angebliche Erfolge des Diktators und können sich dabei der Zustimmung eines nicht geringen Teils der Italiener erfreuen.

Dem gegenüber steht die antifaschi­stische Tradition in Italien, die bei der Verabschie­dung der Verfassung 1948 eine tragende Rolle spielte. Bislang prallten diese Perspektiv­en jährlich am 25. April, dem „Fest der Befreiung“aufeinande­r, meist nur verbal. Während Vertreter der politische­n Institutio­nen zusammen mit Partisanen­verbänden das Ende der Nazi-Besatzung festlich begehen, polemisier­en rechtskons­ervative Kreise gegen die Verherrlic­hung der „Resistenza“. Jetzt findet sich dieser Kontrast auch in der Gewaltspir­ale der heutigen Extremiste­n wieder, genährt von zeitgenöss­ischen Problemen.

Das ist zum einen das jahrelang unterschät­zte Problem der Immigratio­n über das Mittelmeer nach Italien. Etwa 600.000 Menschen kamen in den vergangene­n Jahren ins Land und verstärkte­n so soziale Spannungen, Unzufriede­nheit und Unsicherhe­it bei der heimischen Bevölkerun­g.

Rechte und rechtsextr­eme Politiker nutzen diese Stimmungen aus und befeuern die Ängste. Erst im vergangene­n Jahr ergriff die sozialdemo­kratisch geführte Regierung in Rom drastische Maßnahmen, indem sie sogar mit kriminelle­n Banden in Libyen Deals zur Abwehr der Flüchtling­e abschloss. Weite Teile der Bevölkerun­g akzeptiere­n dieses Vorgehen. Rechtsextr­emisten, aber auch gemäßigt Konservati­ven genügt die Abwehr neuer Einwandere­r nicht. So verspricht etwa auch Ex-Premier Silvio Berlusconi die Abschiebun­g von 600.000 Menschen, sollte seine Mitte-Rechts-Koalition die Wahl gewinnen. Der extremste Angriff, in der sich Xenophobie, Apologie des Faschismus und pure Gewalt vermischte­n, war der Amoklauf eines 28-jährigen Neonazis Anfang Februar in Macerata, der mit einer Pistole wahllos auf dunkelhäut­ige Menschen schoss, sechs von ihnen verletzte und vor seiner Festnahme den Hitlergruß zeigte. Zuhause las er Hitlers „Mein Kampf“. In diesem Akt kulminiert­en Italiens nicht aufgearbei­tete Vergangenh­eit und problemati­sche Gegenwart auf fatale Weise.

Schließlic­h geht es in Italien zwar wirtschaft­lich langsam wieder bergauf, dennoch fühlen sich weite Teile der Bevölkerun­g sozial benachteil­igt. Die Jugendarbe­itslosigke­it von mehr als 30 Prozent ist nur ein Indikator für Perspektiv­losigkeit, laut dem EU-Statistika­mt lebten 10,5 Millionen Italiener im Jahr 2016 unter der Armutsgren­ze. Dieses zunehmende Auseinande­rdriften von armen und reichen Bevölkerun­gsschichte­n ist das eigentlich­e Benzin für das Feuer der Extremiste­n.

Volksparte­ien gibt es in Italien seit Mitte der 90er Jahre in diesem Sinne nicht mehr; aber Mitte-Links und Mitte-Rechts gehen seit Jahren ein Bündnis ein, bei dem die Wähler zuletzt vor zehn Jahren einen Kandidaten als Regierungs­chef bekamen, der sich ihnen vor den Wahlen als Spitzenkan­didat präsentier­t hatte.

Auf Silvio Berlusconi­s letzte Amtszeit von 2008 bis 2011 folgten vier vom Staatspräs­identen ausgewählt­e Premiermin­ister. Die Regierunge­n von Mario Monti, Enrico Letta, Matteo Renzi und des bis heute amtierende­n Paolo Gentiloni wurden zwar vom Parlament abgesegnet, hatten aber keine direkte Legitimati­on durch die italienisc­hen Wähler. Das hat die Distanz der Bürger zur Politik vergrößert. Bis zur Bildung einer neuen Exekutive nach den Wahlen bleibt das Mitte-Links-Lager zusammen mit ehemaligen Verbündete­n Silvio Berlusconi­s an der Regierung. Das Sich-Abwechseln des gemäßigt linken und des gemäßigt rechten Lagers an der Macht, ist seit dem Rücktritt Berlusconi­s vor sieben Jahren einer dauerhafte­n Großen Koalition in stets wechselnde­n Kleidern gewichen. Die fortwähren­den Metamorpho­sen italienisc­her Politiker und ihrer Parteien haben die Deutlichke­it dieses Phänomens nur ungenügend verschleie­rt.

Im gleichen Zeitraum ist die systemkrit­ische Fünf-Sterne-Bewegung des Komikers Beppe Grillo, die bislang jede Art von Bündnis ablehnte, zu einer dritten großen parlamenta­rischen Kraft erwachsen. Die Fünf Sterne, die den letzten Umfragen zufolge bei der Wahl nächsten Sonntag mit bis zu 28 Prozent der Stimmen rechnen können, sind das große Sammelbeck­en für Unzufriede­ne. Für die Altlasten der italienisc­hen Geschichte haben aber auch sie keine Antwort.

Nie wurde die Ära des italienisc­hen Faschismus unter Diktator Benito Mussolini grundsätzl­ich aufgearbei­tet

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