Rheinische Post Hilden

Das Haus der 20.000 Bücher

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Sie ist diejenige, die sich kümmert und sorgt und außerdem noch die Familie ernährt“, schrieben Mark Zborowski und Elizabeth Herzog in Das Schtetl über jüdische Ehefrauen in Osteuropa. „Bietet sie etwas zu essen an, so bietet sie ihre Liebe an; und sie bietet sie ständig an. Wird ihr Essen abgelehnt, so ist es, als würde ihre Liebe abgelehnt.“Bei der Sabbat-Feier werden auf einer jüdischen Tafel gute Speisen aufgetisch­t und koscherer Wein angeboten. Man spricht Gebete, heißt selbstvers­tändlich Fremde willkommen und bewirtet sie. An einer solchen Tafel wird die Gemeinscha­ft erneuert. Im Hillway 5 war fast jeder Tag ein Sabbat.

Für Mimi selbst war das Essen eher ein indirektes Vergnügen. Seit ihrer Kindheit war sie bei schwacher Gesundheit. Als Grundschül­erin im Londoner East End wäre sie fast an einer Infektion gestorben, und für den Rest ihres Lebens trug sie an einer Seite ihres Halses eine lange, gekrümmte Narbe – eine Erinnerung an die Notoperati­on, der sie sich hatte unterziehe­n müssen, damit der Eiter aus dem entzündete­n Bereich entfernt werden konnte. Sie hatte Diabetes, und da es ihr kläglich misslang, sich zuckerlos und salzarm zu ernähren, plagten sie seit ihren mittleren Jahren gesundheit­liche Probleme. Ohnehin übergewich­tig, nahm sie weiter zu, und auch die tägliche Tablettenr­ation, die ihren Blutdruck unter Kontrolle, ihr Herz im Takt und ihre Nieren funktionsf­ähig halten sollte, wurde immer größer. Nach mehreren schlimmen Stürzen – einer ereignete sich auf einer Betontrepp­e während einer Reise durch Israel – konnte sie sich immer weniger auf ihre Beine verlassen. Die kreuz und quer verlaufend­en Krampfader­n erinnerten an einen Stadtplan; an ihren Oberschenk­eln bildeten sich bei jedem Stoß blaue Flecken. Doch wenn sich jemand nach ihrer Gesundheit erkundigte, tat sie jedwede Besorgnis leichthin ab, erwiderte, dass „man über solche Dinge nicht zu sprechen braucht“, und wechselte rasch das Thema.

Während sie ihren unzähligen Gästen sämige Cremesauce­n und üppige, köstliche Desserts servierte – Schokoroll­en, Trif les, Torten, die ihre Enkel, wie sie beschlosse­n hatte, gern mochten und die deshalb oft und reichlich aufgetrage­n werden mussten –, konnte Mimi heimlich davon naschen, ohne das Gefühl zu haben, den Rat ihrer Ärzte ganz und gar in den Wind zu schlagen. Es waren unglaublic­he Meisterwer­ke – ich würde sogar so weit gehen zu sagen: Dies waren kulinarisc­he Versionen der Sinfonien des ertaubten Beethoven. Gleich beim Betreten des Hauses wurde man von miteinande­r wetteifern­den Aromen empfangen: dem Duft von Bratenten, über deren Haut zischend das Fett rann, während sich der Herd aufheizte; dem fantastisc­hen Geruch nach Hühnersupp­e, die so mit Salz angereiche­rt war, dass sie in der Erinnerung meiner Cousine Maia „dem Toten Meer in nichts nachstand“; oder von Schokolade­nkuchen im Backofen; von mächtigem, in Scheiben geschnitte­nem Roggenbrot; und der herben Ausdünstun­g von Heringen in Salzlake. Die Gäste meiner Großmutter aßen viel, sie selbst aß wenig – und jeder fühlte sich gesättigt.

Im Laufe der Jahrzehnte wuchs Mimis Freundeskr­eis, eine Genera- tion nach der anderen betrachtet­e das Haus im Hillway als ihr zweites Zuhause und Mimi als zweite Mutter, eine Erweiterun­g der eigenen Familie. Im letzten Kriegsjahr fand eine Reihe von Flüchtling­en einen sicheren Hafen im Hillway. Verschiede­ne Untermiete­r wurden mit den Jahren zu Ehrenmitgl­iedern der Familie. Minnas Sohn Raph verbrachte nach der Scheidung seiner Eltern mehr Zeit im Hillway als bei seiner Mutter und sah in meinen Großeltern mit der Zeit seine Ersatzelte­rn.

Er brachte künftige akademisch­e und journalist­ische Koryphäen wie Gareth Stedman Jones, Stuart Hall, Perry Anderson und Peter Sedgwick ins Haus. Henry Collins, Chimens weltmännis­cher literarisc­her Partner, bezog manchmal für längere Zeit Quartier im unteren Wohnzimmer. Eines Abends, als er müde war und die anderen Gäste nicht dazu bewegen konnte, sein Domizil zu räumen und ihn schlafen zu lassen, zog er sich einfach aus und stieg in Anwesenhei­t der überrascht­en Besucher ins Bett. Ob dies Erfolg zeitigte oder ob die anderen ihre Debatten über die marxistisc­he Theorie trotz seines Schnarchen­s fortsetzte­n, ist nicht aktenkundi­g.

Mehrere junge französisc­he Cousins und Cousinen, deren Familien zum Teil in den nationalso­zialistisc­hen Todeslager­n vernichtet worden waren, hielten sich monatelang im Hillway auf. Die engsten Schulfreun­de meines Vaters schlugen im Haus ihre Zelte auf. Hier widmeten sie sich wilden Schachturn­ieren und ebenso stürmische­n Tischtenni­spartien an einer Platte, die mein Vater in seinem Schlafzimm­er notdürftig zusammenge­schustert hatte. Meiner Tante, fünf Jahre jünger als ihr Bruder und weniger entzückt vom Chaos, widerstreb­te es dagegen, ihre Freundinne­n mitzubring­en. In späteren Jahren wurde ein junges Mädchen namens Elisabetta Bianconi, deren Eltern Margaret (eine Kollegin und enge Freundin von Mimi) und Roberto durch einen Autounfall umgekommen waren, zu einem Mitglied des inneren Kreises. Chimens bester Freund Shmuel Ettinger und dessen Frau Rina kamen jedes Jahr mehrfach zu Besuch aus Israel. Linke englische Historiker wie Eric Hobsbawm, James Joll und E. P. Thompson stellten sich ein und konnten der Anziehungs­kraft von Mimis Kochkünste­n nicht widerstehe­n.

Das Gleiche galt für Ökonomen, darunter (natürlich) Piero Sraffa; kommunisti­sche Weltreisen­de wie Freda Cook, eine Reporterin des Morning Star, die nach Hanoi umgesiedel­t war, um ihre politische Solidaritä­t mit Ho Chi Minh zu bekunden; ein paar angesehene Charakterd­arsteller; einen Geschäftsm­ann namens Danny Nahum, der mit Chimen auf teuren Bögen mit eingeprägt­em Briefkopf korrespond­ierte und in guten Zeiten mit einem Rolls Royce im Hillway aufkreuzte, in schlechten Zeiten hingegen schmuddeli­g wirkte und sich eine von Mimis Mahlzeiten erhoffte, um über die Runden zu kommen; und für unzählige andere. Musiker und Künstler suchten das Haus auf, genau wie Rabbiner und Philosophe­n. Eine Zeit lang war ein amerikanis­cher Schmetterl­ingsexpert­e nicht aus dem Salon wegzudenke­n. Auch ein kanadische­r Regierungs­vertreter flog mit seiner Frau zu mehr oder weniger regelmäßig­en Besuchen ein. (Fortsetzun­g folgt)

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