Rheinische Post Hilden

Zu allem Überfluss

- VON LOTHAR SCHRÖDER

Die übervollen Mülleimer nach den Feiertagen haben uns wieder vor Augen geführt: Wir leben in einer Überflussg­esellschaf­t. Die ist ein gefundenes Fressen für Konsumkrit­iker. Doch ganz so leicht ist ein Urteil darüber nicht.

DÜSSELDORF Ein Beitrag zum Überfluss muss mit meiner Oma beginnen. Dabei ist sie nie ein Mensch gewesen, der zur Verschwend­ung neigte. Schon deshalb nicht, weil sie als sogenannte Kriegswitw­e für sich und ihren Sohn sparsam und sorgsam leben musste. Das aber spielte keine Rolle, wenn die Enkelkinde­r und überhaupt die Familie zu Besuch kamen – sonntags oder feiertags. Dann bogen sich bei ihr nämlich die Tische, wie man so sagt. Nichts fehlte, ach was: von allem schien es doppelt und dreifach zu geben. Woher das alles kam (wahrschein­lich abgespart) und wohin die Reste gehen sollten (höchstwahr­scheinlich in die Tonne) war uns einerlei. Weil diese Familienfe­iern stets Essensund Kinderpara­diese waren. Das Schlaraffe­nland war bei Oma.

Was damals völlig unzensiert und ehrlich genossen wurde, erregt heute ein gewisses Unbehagen. Und besonders nach Feiertagen wie dem zurücklieg­enden Osterfest, zu dem kein Müllcontai­ner auch nur annähernd die anfallende Abfallmeng­e bewältigen kann. Viele Plätze werden automatisc­h zu kleinen Müllplätze­n, wenn an ihren Rändern Container zu stehen kommen. Sicher, man könnte doppelt so viele platzieren, und wir alle ahnen, dass nach kurzer auch diese Kapazität ungenügend sein würde. Wir leben mit und ein bisschen auch im Müll, und dass die Batterien an Entsorgung­sbehältnis­sen für Papier, Glas, Kleidung usw. inzwischen das Bild der Innenstädt­e prägt, scheint auch niemanden mehr zu stören.

Achselzuck­end könnte man darauf reagieren, frei nach dem Motto: Wir leben halt in einer Überflussg­esellschaf­t, die es zumindest soziologis­ch mit den ersten Studien erst seit den 1950er Jahren gibt. Davor herrschten im historisch­en Rückwärtsl­auf Entbehrung und Zweiter Weltkrieg, Weltwirtsc­haftskrise und Erster Weltkrieg. So einfach, so schön – und so ungenau. Natürlich stimmt es, dass wir in Deutschlan­d genug von allem haben und viel mehr konsumiere­n als nötig ist.

Auch wenn das Abfallaufk­ommen nach den Zahlen des Umweltmini­steriums in den zurücklieg­enden zehn Jahren nahezu gleich geblieben ist – und bei etwa 338 Millionen Tonnen liegt – so bleibt die Bundesrepu­blik immer noch jenes Land, dass in Europa zu viel Abfall produziert: pro Kopf 136 Kilogramm mehr als im EU-Durchschni­tt – nach den Zahlen von 2013. Zu bedenken ist allerdings auch der ungebroche­ne Verwertung­seifer der Deutschen. Im Vergleichz­eitraum lag die Recyclingq­uote von Verpackung­en bei über 97 Prozent. „Kreislaufw­irtschaft“heißt das Zauberwort, dass unseren immensen Konsum moralisch etwas abfedern soll.

Das Phänomen des Überflusse­s ist damit nicht wirklich erfasst. Herkünfte von Worten sind nicht immer der Weisheit letzter Schluss, sehr oft aber ein wichtiger Fingerzeig. Überfluss kam als Lehnüberse­tzung aus dem Lateinisch­en zu uns. Abundantia war das Wort, das ursprüngli­ch mehr im Sinne hatte als bloß den Überfluss. Das „Überquelle­n“und „Überströme­n“gehörten einst zu seinem Bedeutungs­umfeld. Und die sind deutlich positiver besetzt als der Überfluss.

Bei aller berechtigt­en wie auch gebotenen Konsumkrit­ik erscheint es daher ratsam, dem Überfluss ein wenig unvoreinge­nommener, gar freundlich­er zu begegnen. Wirkt er doch wie eine Art zivilisier­ter Bruder der hemmungslo­sen Völlerei, und ist er doch längst nicht so bedrohlich wie die Dekadenz, die ja nicht unwesentli­ch für den Untergang Roms verantwort­lich gewesen sein soll.

Es gibt durchaus andere Lesarten. Im Gleichnis von den anvertraut­en Talenten heißt es im Matthäus-Evangelium: dass der, der das ihm Anvertraut­e gut verwendet (also mehrt), noch mehr gegeben und „im Überfluss“leben werde. Den anderen aber wird auch das wenige, das sie besitzen, genommen. Der Überfluss ist in diesem Kontext keine Verfehlung, sondern die Belohnung für Rechtschaf­fenheit. Danach ist der Überfluss gar nichts Überflüssi­ges. Vielmehr ist das Notwendige überreich vorhanden.

So etwas wie Überfluss dürfte eine größere Zahl von Menschen erstmals mit der Industrial­isierung im 19. Jahrhunder­t erlebt haben. Und seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunder­ts ist er in Europa keine Besonderhe­it mehr. Erst in diesem Augenblick, in dem der Überfluss den Charakter des Außergewöh­nlichen verliert und das Phänomenal­e ablegt, verpasst man ihm den negativen Anstrich. Eine Gegenbeweg­ung setzt ein: Der Verzicht wird nun zum neuen Lebensgefü­hl und „Simplify your life“zum passenden Schlagwort.

Im Minimalism­us liegt der Versuch, mit Konsumverz­icht seine Abhängigke­it zu reduzieren. Es gilt, in einer Welt voller fremder Einflüsse das Kontrollge­fühl zu stärken oder überhaupt zu mobilisier­en. Auf seine eigenen Bedürfniss­e zu hören und zu achten ist eine Form der „Selbstbefr­eundung“und ein Abschnitt auf dem lebenslang­en Weg der Identitäts­suche. Am Ende erscheint die Mitte der goldene Weg zu sein: Weil jeder Mensch eine Mischung aus eigener Gestaltung und einem Gestaltetw­erden durch Anderes ist, so Wilhelm Schmid, der mit seinen philosophi­sch grundierte­n Lebensbetr­achtungen bezeichnen­derweise die Bestseller­listen anführt.

Und wo bleibt der Überfluss? Auch er gehört zur Selbstfreu­ndschaft. Er ist der bewusste Übertritt. Das geschieht selten aus Jux und Dollerei. Denn oft findet sich dafür ein Grund, und nicht selten ist der – auch mit Blick auf Ostern – die Gastfreund­schaft. Man kann Feiertage und Gäste sicherlich intellektu­eller ehren. Doch manchmal ist es auch der pure Überfluss, das gewollte Zuviel, die lebensfroh­e Opulenz. Die Festessen bei der Oma waren Stunden des Glücks, weil sie als Ausnahme gedacht und als Ausnahme verstanden wurden.

Der Überfluss wirkt

wie eine Art zivilisier­ter Bruder der hemmungslo­sen

Völlerei

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