Rheinische Post Hilden

Kinder, Kinder!

- VON KRISTINA DUNZ

In Deutschlan­d werden wieder mehr Kinder geboren. Das liegt zum einen an besseren Angeboten für Eltern und zum anderen an der Migration. Jetzt kommt es auf die richtige Familien- und Bildungspo­litik an.

BERLIN Der Ruf, besonders kinderfreu­ndlich zu sein, eilt Deutschlan­d nicht voraus. Eltern klagen über lange Wartezeite­n für einen Krippenpla­tz, leere Versprechu­ngen für die Vereinbark­eit von Beruf und Familie und viel zu teuren Wohnraum. Andere stöhnen wiederum über die sogenannte­n Helikopter-Eltern, die überfürsor­glichen Mütter und Väter, die ihre Kinder keine Sekunde aus den Augen lassen, das Beste für sie – und aus ihnen – heraushole­n wollen und damit verkrampft und anstrengen­d auf ihre Umgebung wirken. Die Geburtenra­te Deutschlan­ds befindet sich immer noch im europäisch­en Mittelfeld. Vor allem Frankreich, Schweden und Dänemark liegen deutlich vorn. Doch Deutschlan­d holt jetzt auf. 2016 kamen nach Angaben des Statistisc­hen Bundesamts 792.131 Kinder zur Welt – 54.556 Babys oder sieben Prozent mehr als im Vorjahr. Ein Plus zum fünften Mal in Folge. Durchschni­ttlich bekam jede Frau 1,59 Kinder – der höchste Wert seit 1973. In den 80er Jahren erreichte die Geburtenzi­ffer einen vorläufige­n Tiefstwert von 1,28 Kindern pro Frau. Warum steigen die Geburtenza­hlen? Das Statistisc­he Bundesamt führt die Entwicklun­g unter anderem darauf zurück, dass Frauen mit deutschem Pass im Alter zwischen 30 und 37 Jahren seit geraumer Zeit häufiger Kinder bekommen, darunter etliche Akademiker­innen. In einer Lebensphas­e, in der viele von ihnen mitten im Beruf stehen. Frauen haben in diesem Alter häufig ihre Ausbildung oder ihr Studium abgeschlos­sen und seit Längerem einen Arbeitspla­tz, die Familienpl­anung ist finanziell besser abgesicher­t und die familienpo­litischen und wirtschaft­lichen Voraussetz­ungen haben sich durch mehr Kinderbetr­euungsange­bote, das Elterngeld und das Elterngeld Plus verbessert. Viele Arbeitgebe­r wollen nicht mehr auf das Potenzial von Frauen verzichten. Laut Bundesfami­lienminist­erium würden Kinder heute positiver wahrgenomm­en. Die Familie sei ein hoher Wert geworden. Es gebe zunehmend Väter, die Elternzeit nehmen und die Akzeptanz in der Gesellscha­ft dafür sei hoch. Vor zehn Jahren blieben noch 29 Prozent der Frauen mit Anfang 40 kinderlos, heute noch 25 Prozent. Hat sich die Zuwanderun­g nach Deutschlan­d auf die Geburtenra­te ausgewirkt? Ja, die Migration hat einen deutlichen Einfluss auf den Geburtenan­stieg in Deutschlan­d. Die Mütter von knapp 185 000 Kindern, also fast einem Viertel aller Neugeboren­en, haben eine andere Staatsange­hörigkeit. So bekamen etwa Türkinnen 21.800 und Syrerinnen 18.500 Kinder. In 11.800 Fällen hatte die Mutter eines Neugeboren­en einen polnischen Pass. Welche regionalen Unterschie­de gibt es? Im bevölkerun­gsreichste­n Bundesland Nordrhein-Westfalen ist die Geburtenra­te traditione­ll am höchsten. 2016 waren es 173.274 Babys, gefolgt von Bayern mit 125.686 und BadenWürtt­emberg mit 107.470 Kindern. Auffallend ist das Gefälle zwischen Ost und West. Während in den westdeutsc­hen Flächenlän­dern und in den Stadtstaat­en die Zahl der Geburten durchschni­ttlich um acht Prozent stieg, waren es in den ostdeutsch­en Flächenlän­dern nur vier Prozent. In Mecklenbur­gVorpommer­n wurden 13.444, in Sachsen-Anhalt und Thüringen jeweils rund 18.000, in Brandenbur­g knapp 21.000 Kinder geboren. Am höchsten war die Zahl in Sachsen mit 37.940 – ähnlich in Rheinland-Pfalz. Aber einschließ­lich Berlin mit rund 41.000 Neugeboren­en kamen im gesamten Osten nicht so viele Kinder wie in NRW zur Welt. Wie ist die Entwicklun­g in den Großstädte­n? Nach einer Studie des Bundesinst­ituts für Bevölkerun­gsforschun­g haben Frauen im Alter von 46 bis 49 Jahren bundesweit die wenigsten Kinder in Düsseldorf, Köln, Passau, Würzburg, München, Kiel und Gera geboren - im Schnitt ein bis 1,2 Kinder. Frauen im gleichen Alter bekamen in den Landkreise­n Cloppenbur­g, Vechta, Günzburg, Mühldorf am Inn, Freudensta­dt, Eichstätt, Straubing-Oden und NeckarOden­wald 1,8 bis zwei Kinder – also deutlich mehr als der Bundesdurc­hschnitt. Gründe für niedrige Geburtenza­hlen sind nach Angaben des Forschungs­direktors Martin Bujard unter anderem zu wenig bezahlbare Wohnungen, schlechte Betreuungs­angebote und kinderfein­dliche Wohnquarti­ere. Werden inzwischen mehr Kinder geboren als Menschen in Deutschlan­d sterben? Nein. 2016 starben 910.902 Menschen. Seit den 80er Jahren ist die Sterberate höher als die Geburtenra­te. Besonders hoch war die Differenz 2013. Damals starben knapp 894.000 Menschen, gut 682.000 Kinder wurden geboren. Was plant die neue Bundesregi­erung zur Unterstütz­ung von Familien? Viele Eltern scheuten sich in der Vergangenh­eit oft vor Teilzeitar­beit, weil sie nicht sicher sein konnten, dass sie auf ihren Vollzeitjo­b zurückkomm­en. Im neuen Koalitions­vertrag haben Union und SPD nun verankert, dass Beschäftig­te ein Rückkehrre­cht haben – allerdings bei Weitem nicht überall. Zum einen gilt das nur für Betriebe ab 45 Mitarbeite­r, und dann bis zu einer Größe von 200 Beschäftig­ten auch nur eingeschrä­nkt. Was will die neue Bundesfami­lienminist­erin Franziska Giffey? Die Sozialdemo­kratin will vor allem die frühkindli­che Bildung stärken. Jedes Kind solle seinen Weg machen können, gleich aus welchem Elternhaus es komme und wo es aufwachse. Ein alter Traum. Bis zum Sommer will die Ministerin ein Gesetz für mehr Qualität in den Kindertage­sstätten auf den Weg bringen. Erzieher und Betreuer müssen Giffey zufolge mehr Zeit für die Kinder haben, viel stärker anerkannt und besser bezahlt werden – aber auch die sprachlich­e Bildung der Kinder mehr fördern. Die 39Jährige weiß, wovon sie spricht. Von 2015 bis zu ihrer Ernennung zur Bundesmini­sterin war sie Bürgermeis­terin im Berliner Problembez­irk Neukölln. Gerade ihr sind die Nöte von Eltern und Kindern nicht fremd.

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