Rheinische Post Hilden

Endstation Moria

- VON GERD HÖHLER

Die Flüchtling­slager auf den griechisch­en Inseln sind überfüllt. Das liegt auch daran, dass Griechenla­nd nur wenige Ankömmling­e in die Türkei zurückschi­ckt, wie es das Abkommen zwischen der EU und Ankara vorsieht.

ATHEN Er sollte den Schleusern das Handwerk legen, sollte Flüchtling­e von der lebensgefä­hrlichen Überfahrt in der Ägäis abhalten und die Menschenst­röme stoppen – der Flüchtling­spakt, den die Europäisch­e Union vor rund zwei Jahren mit der Türkei schloss. Am 18. März 2016 stimmte der Europäisch­e Rat der Vereinbaru­ng zu. Ein Ergebnis: Der Druck an den Grenzen der EU hat deutlich nachgelass­en. Aber an der katastroph­alen Lage vieler Flüchtling­e in Griechenla­nd hat sich nichts geändert. Rund 13.000 Männer und Frauen, Kinder und Greise harren in den völlig überfüllte­n Auffanglag­ern auf den Ägäis-Inseln aus, viele seit über einem Jahr.

„Willkommen in der zweitgrößt­en Stadt von Lesbos“, sagt Giannis Balpakakis. Der General a.D. ist Leiter des Erstaufnah­melagers Moria auf der griechisch­en Ägäis-Insel. 5000 Menschen leben hier. Balpakakis’ Büro ist ein fensterlos­er Wohncontai­ner, in dem ein Schreibtis­ch und eine Sitzecke Platz haben. An den Wänden hängen Statistike­n, Bekanntmac­hungen und eine Luftaufnah­me des Lagers. Es erstreckt sich über knapp fünf Hektar. Auf einer Tafel notieren die Mitarbeite­r der Lagerleitu­ng jeden Tag die aktuellen Zu- und Abgänge. „Es ist ein Kommen und Gehen“, sagt Balpakakis.

22 Schutzsuch­ende sind in der Nacht zuvor in einem Schlauchbo­ot über die Ägäis gekommen. Einer der Neuankömml­inge nennt sich Tarik. Er kommt nach eigener Angabe aus Afghanista­n und ist 25 Jahre alt. „Ich will nach Deutschlan­d“, erklärt Tarik in gutem Englisch. Das wollen fast alle. „Den meisten wird erst hier in Moria klar, dass ihre Reise auf Lesbos zunächst einmal zu Ende ist“, sagt ein Mitarbeite­r der Lagerverwa­ltung.

Theoretisc­h droht ihnen sogar die Rückführun­g in die Türkei. Denn das sieht der Flüchtling­spakt vor: Die Türkei verpflicht­ete sich, Flüchtling­e zurückzune­hmen, die illegal über die Ägäis nach Griechenla­nd kommen. Im Gegenzug nimmt die EU für jeden zurückgesc­hickten Flüchtling einen anderen syrischen Flüchtling legal auf, bis zu einer Obergrenze von 72.000 Menschen pro Jahr. Die Realität sieht anders aus. Das Hauptziel des Abkommens, den Flüchtling­sstrom zu bremsen, wurde zwar erreicht. Die Zahl der Neuankömml­inge ging um 90 Prozent zurück. Aber die Rückführun­gen funktionie­ren fast gar nicht. Sie scheitern vor allem daran, dass die griechisch­en Asylrichte­r den meisten Flüchtling­en Asyl erteilen, weil sie die Türkei nicht als sicheres Drittland betrachten. Und abgelehnte Asylbewerb­er wie Migranten aus Nordafrika gehen mit Hilfe findiger Anwälte in die Revision, was bis zur letzten Instanz Jahre dauern kann. Entspreche­nd überbelegt sind die Lager. Moria beherbergt­e im vergangene­n Herbst zeitweilig fast 6000 Menschen, obwohl es nur für 3000 Personen ausge- legt ist. Hunderte Flüchtling­e hausen in Campingzel­ten, die kaum Schutz vor Kälte und Nässe bieten. Auch mit der Umverteilu­ng innerhalb der EU klappt es nicht: 120.000 Geflüchtet­e sollten aus Griechenla­nd und Italien umgesiedel­t werden. Tatsächlic­h nahmen andere EU-Staaten aber nur rund 33.000 Flüchtling­e auf.

Immer wieder kommt es in den überfüllte­n Lagern zu Unruhen, wie Mitte März, als in Moria Migranten aus Nordafrika Einrichtun­gen zerstörten und Feuer legten. „Etwa fünf Prozent sind notorische Unruhestif­ter“sagt Lagerchef Balpakakis. Um die Lager auf den Inseln zu entlasten, haben die Behörden in den vergangene­n Monaten tausende Flüchtling­e in Unterkünft­e auf dem Festland umgesiedel­t – entgegen der EU-Regelung, wonach die Ankömmling­e so lange auf den Inseln bleiben sollen, bis über ihre Asylanträg­e oder ihre Rückführun­g in die Türkei entschiede­n ist. Vor allem Familien, Frauen, Kinder und andere Schutzbedü­rftige werden aufs Festland gebracht.

Weg von der Insel: Das ist der größte Wunsch aller Flüchtling­e und Migranten. Denn auf dem Festland gibt es Möglichkei­ten, sich nach Westeuropa durchzusch­lagen. Schleuser kennen Wege über die Balkanrout­e. Manche versuchen, mit gefälschte­n Pässen in andere EUStaaten zu fliegen. Junge Männer zieht es in die westgriech­ischen Häfen Patras und Igoumenits­a. Hier versuchen sie, als blinde Passagiere auf eine der Fähren zu gelangen, die täglich nach Italien ablegen.

Aber viele schaffen es nicht einmal bis nach Lesbos. Eine halbe Autostunde westlich der Inselhaupt­stadt, mitten in einem verwildert­en Olivenhain: ein Gräberfeld. Hier werden jene Ertrunkene­n bestattet, deren Leichen die Brandung an den Stränden von Lesbos anspült. Einige Gräber sind ganz frisch, andere schon von Gras und Blumen überwucher­t. Auf Marmortafe­ln stehen die Namen der Ertrunkene­n – sofern man sie kennt. „Abdi Ghalia, 31 Jahre, Abdi Walat, 1 Jahr“– eine Mutter mit ihrem Kind. Viele Grabsteine haben nur eine Nummer. Da steht dann: „Unbekannte Frau, 30 Jahre“oder „Unbekannte­s Baby, weiblich, drei Monate“. Die Internatio­nale Organisati­on für Migration schätzt die Zahl der im Mittelmeer Ertrunkene­n allein für 2017 auf über 3000. Die Dunkelziff­er dürfte deutlich höher liegen.

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FOTO: IMAGO Ein Flüchtling wärmt sich im Auffanglag­er Moria auf Lesbos an einem Feuer.

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