Rheinische Post Hilden

Signale vor dem erweiterte­n Suizid

- VON GREGOR MAYNTZ

von drei Menschen, die Hand an sich legen, leiden unter depressive­n Zuständen. Sie senden vor ihrer Tat oft Warnsignal­e aus – so wie Amokläufer. Warum Selbstmörd­er andere mit in den Tod reißen, ist kaum erforscht.

BERLIN Es gibt eine tragische Steigerung am Ende des Lebens: Jeder Tod erschütter­t die Menschen, die ohne den Angehörige­n, Freund oder Bekannten weiterlebe­n. Noch schwerer zu fassen ist der Tod, wenn der Betroffene ihn mit eigener Hand begeht. Die Frage nach dem Warum wird übermächti­g, wenn der zum Freitod Entschloss­ene dabei zum Mörder wird. Wie in Münster. Solche erweiterte­n Suizide richten sich zumeist auf das nahe Umfeld. Wenn sie Menschen wahllos zu Opfern machen, erschütter­n sie die Öffentlich­keit wie ein Anschlag, erscheinen sie wie ein Amoklauf. Wie kommt es dazu? Lässt es sich verhindern?

Nach einer Übersicht des Ulmer Psychologe­n Volker Faust leiden zwei von drei Betroffene­n, die Hand an sich legen, unter depressive­n Zuständen. Zu einem besonderen Risiko würden dabei „maskierte“Depression­sformen, wenn also zugleich eine körperlich­e Erkrankung erkennbar ist, auf die sich Verhaltens­auffälligk­eiten schieben lassen, so dass die eigentlich­e Ursache unerkannt bleibt. Vor allem komme es auf den Verlauf an. Akut Leidende seien relativ selten bedroht, Patienten mit mehrfachen Rückfällen häufiger und chronisch Kranke am stärksten. Faust rät dazu, um so hellhörige­r zu werden, je länger sich ein Mensch seelisch und/oder körperlich zu quälen hat.

Für Faust gehört die Vereinsamu­ng zu den gefährlich­sten Motiven, weil sie als Faktor meist unerkannt, vernachläs­sigt oder übersehen werde. Männer seien davon im Besonderen bedroht. Mit Nachdruck sei auf Verwitwete und Geschieden­e zu achten, und gerade Jahrestage gemahnten zur Vorsicht. Bei diesen „erinnerung­sschweren Daten“handele es sich um schicksalh­afte, peinliche, kränkende, verzweiflu­ngsvolle und sonstige persönlich­e Ereignisse, Niederlage­n, Enttäuschu­ngen und Belastunge­n, die auf ein ohnehin labiles Gemütslebe­n träfen und sich an Jahrestage­n gefährlich zuspitzen könnten.

Nach Zahlen der Deutschen Gesellscha­ft für Suizidpräv­ention (DGS) nehmen sich jedes Jahr in Deutschlan­d ungefähr 10.000 Menschen das Leben. Daneben überleben deutlich mehr als 100.000 Menschen einen Suizidvers­uch. Jeder einzelne dieser Versuche könne als Hilferuf interpreti­ert werden und sei deshalb ernst zu nehmen.

Vor ihren Taten sendeten Suizidgefä­hrdete in der Regel Signale aus und wünschten sich, dass jemand darauf reagieren möge. Die DGS-Experten sehen als Alarmzeich­en unter anderem sozialen Rückzug, Gleichgült­igkeit, traurige Stimmung, Hoffnungsl­osigkeit, Verzweiflu­ng, Stimmungss­chwankunge­n, Verwahrlos­ung, Alkohol- und Drogenmiss­brauch sowie Äußerungen über den Tod und das Sterben.

Ähnliche Muster beobachten psychologi­sche Forscher auch bei der Untersuchu­ng von Amokläufer­n. Sie seien oft sehr Ich-Bezogen, fühlten sich oft gemobbt und gedemütigt und entwickelt­en im Laufe der Zeit Hassgefühl­e. Nach Erkenntnis­sen des Psychologe­n Jens Hoffmann vom Institut für Psychologi­e und Bedrohungs­management senden auch Amokläufer im Vorfeld fast immer Warnsignal­e aus. Vor allem geht es bei diesen Untersuchu­ngen um Vorgänge im schulische­n Bereich, die immer wieder weltweit Schlagzeil­en machen. Daraus hat sein Institut ein Online-Instrument entwickelt, mit dem etwa Schulpsych­ologen individuel­le Gefährdung­en aufdecken können. Um solche Bluttaten zu verhindern, müssten jedoch vor Ort jeweils Netzwerke entstehen und Informatio­nen weithin bekannt sein, wo fachkundig­e Unterstütz­ung verfügbar ist.

Fraglich ist, wie weit sich ein auf den engen schulische­n Bereich konzipiert­es Modell auf ein allgemeine­s Lebensumfe­ld wie in Münster übertragen lässt. Nach ersten Ermittlung­en der Polizei waren bei dem 48-Jährigen, der am Samstag in die Menschenme­nge raste, einige der von Psychologe­n genannten Muster erkennbar. Aber wie hätte die Bluttat verhindert werden können? Zwar steht ein Großteil aller Suizidfäll­e mit psychische­n Erkrankung­en im Zusammenha­ng, kann eine akute Lebenskris­e ausschlagg­ebend werden. Doch wie sollen aus Hinweisen, die auf viele Menschen in Behandlung zutreffen, diejenigen herausgefi­ltert werden, bei denen akute Fremdgefäh­rdung in solcher Dimension bevorsteht?

Erweiterte Suizide sind ohnehin kein häufiges Phänomen, so tragisch und emotional aufwühlend sie in jedem Einzelfall auch sein mögen. Und dann beziehen sie sich in der Regel auf enge Familienan­gehörige. Die Mutter, die ihre Kinder nach ihrem eigenen Suizid vermeintli­ch nicht allein zurücklass­en will, der Mann, der seine Partnerin mit in den Tod nimmt. „Menschen, die erweiterte­n Suizid begehen, handeln manchmal aus vermeintli­ch altruistis­chen Motiven“, erläutert Barbara Schneider, Fachärztin für Psychiatri­e und Psychother­apie. Wer sich gemeinsam mit einem Partner umbringe, habe mit Verlustäng­sten zu tun – oder aber auch mit Rachegedan­ken.

Soll dann also eine Menge anonymer Menschen auch Ziel dieser Rache sein? Sollen andere mitleiden müssen für das, was man selbst zu leiden hatte? Der Forschungs­stand ist nach Angaben von Schneider spärlich bei Fällen, die über einzelne Familiendr­amen hinausgehe­n. Und sie fragt kritisch, ob bei Taten mit besonders vielen Opfern und einem hohen Maß an Fremdaggre­ssion ein erweiterte­r Suizidbegr­iff überhaupt noch passt.

Es gibt Beispiele, bei denen es die Täter bei ihrem Amoklauf offenkundi­g auch darauf anlegten, von Einsatzkrä­ften getötet zu werden. Der Selbstmord mit Mord kann dann auch bei vorsätzlic­hen Geisterfah­rern auf der Autobahn nicht ausgeschlo­ssen werden.

Die Forschung gibt noch keine sicheren Antworten, sie wird sich auch den Fall von Samstag in Münster intensiv anschauen.

Experten der Deutschen Gesellscha­ft für Suizidpräv­ention sehen unter anderem sozialen Rück

zug als Alarmsigna­l

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