Rheinische Post Hilden

Münster – eine Stadt steht unter Schock

- VON HENNING BULKA UND THOMAS REISENER

In der westfälisc­hen Idylle herrscht am Tag nach der Todesfahrt Entsetzen. Aber auch Trotz: Die Menschen wollen sich nicht unterkrieg­en lassen.

MÜNSTER Für das idyllische Münster ist es der erste schöne Frühlingss­amstag des Jahres. Wie immer an solchen Tagen gibt es im Traditions­gasthaus „Großer Kiepenkerl“kaum freie Plätze. Vor allem nicht auf dem eng bestuhlten Vorplatz, von wo man diesen gemütliche­n Blick auf den wohl schönsten Teil der historisch­en Altstadt hat: die kopfsteing­epflastert­en Ausläufer des Prinzipalm­arktes, den die Münsterane­r liebevoll ihre „gute Stube“nennen. „Omas Warmes Schokolade­nküchlein“kostet 8,95 Euro.

Doch von einer Sekunde auf die nächste ist es vorbei mit der Idylle. Wie aus dem Nichts schießt mit hoher Geschwindi­gkeit ein silbergrau­er Campingbus auf den Platz, mitten hinein in die Menge der Menschen, die dort friedlich die Sonne genießen. Unmittelba­r, nachdem der Wagen inmitten zertrümmer­ter Café-Stühle und -Tische zum Stehen gekommen ist, erschießt sich der Fahrer am Steuer. Auch für mindestens zwei weitere Menschen ist es der letzte Frühlingst­ag. Eine 51jährige Frau aus dem Kreis Lüneburg und ein 65-jähriger Mann aus dem Kreis Borken erliegen ihren schweren Verletzung­en. Mehr als 20 weitere Menschen werden teils schwer verletzt. Einige schwebten auch gestern noch in Lebensgefa­hr.

Dass da in der Altstadt etwas Schlimmes passiert ist, bekommen die Spaziergän­ger am Aasee zunächst gar nicht mit. Erst, als aus der Innenstadt ein Martinshor­n nach dem anderen übers Wasser schallt und der Polizeihub­schrauber kreist, ändert sich das Bild. Die Spaziergän­ger blicken immer besorgter in Richtung Stadtzentr­um – und auf ihr Smartphone. Denn parallel zu den Ereignisse­n informiere­n jetzt auch die Online-Medien per PushMittei­lung, in den sozialen Netzwerken und Messengerd­iensten kursieren erste Fotos und Gerüchte. Noch wird befürchtet, dass der Täter auch Bomben platziert haben könnte. Von möglichen weiteren Tätern, die bewaffnet durch die Innenstadt marodieren, ist in diesen ersten, zum Glück falschen Gerüchten die Rede.

Plötzlich überfliegt der Hubschraub­er den Aasee im Tiefflug. Die meisten machen sich auf den Heimweg. Bis klar wird, dass es sich wohl nicht um einen Terroransc­hlag gehandelt hat, bleibt die Stimmung auch an anderen Orten in der Stadt angespannt. Es dauert lange, bis die Nachricht von einem Einzeltäte­r für etwas Erleichter­ung sorgt.

Die Solidaritä­t der Münsterane­r ist groß an diesem Samstag, auch in den sozialen Netzwerken. Während an anderer Stelle im Netz längst der Hass tobt, und einige voreilige Schlüsse über die Hintergrün­de der Tat ziehen, ruft die Uniklinik Münster zu Blutspende­n auf. Binnen Minuten bildet sich eine lange Schlange Freiwillig­er – so lang sogar, dass die Klinik wenig später meldet: Der Bedarf ist gedeckt, es werden keine Spender mehr benötigt.

Der Zusammenha­lt unter den Menschen funktionie­rt. Von der „Verantwort­ungsgemein­schaft der Münsterane­r“sprechen am Sonn-

Isabel Faria tag lobend Bundesinne­nminister Horst Seehofer (CSU) und NRW-Ministerpr­äsident Armin Laschet (CDU), als sie am „Kiepenkerl“Blumen niederlege­n.

Wut, Trauer, Schock: Auch am Tag eins nach dem Attentat ist die Westfalen-Metropole gestern noch immer wie im Ausnahmezu­stand. Die „gute Stube“, die an Wochenende­n wie diesem den Trubel Tausender Touristen gewohnt ist, wirkt leerer als sonst. Vor dem Eiscafé „Schneefloc­ke“unweit des „Kiepenkerl­s“sitzt Muhsin Dawood und isst ein Amarena-Eis. „Jetzt erst recht“, sagt der Halb-Iraker, „wir müssen weitermach­en.“

Für den 24-Jährigen ist das leichter gesagt als getan. Er ist Barkeeper im „Extrablatt“, nur einen Steinwurf vom „Kiepenkerl“entfernt, und war am Samstag einer der ersten am Unglücksor­t. „Ich war auf dem Weg zur Arbeit, und dann hörte ich den Knall“, berichtet er. Der Bulli sei gerade zum Stillstand gekommen. „Ein irres Geschrei, überall lagen Menschen und dazwischen ein Chaos aus umgestürzt­en Tischen und Stühlen. Furchtbar.“Die Polizei und mehrere Rettungswa­gen seien sofort zur Stelle gewesen. „Ich bin dann ins Extrablatt, und da haben sie den Laden aber auch schon evakuiert. Wegen Bombengefa­hr“, erzählt Muhsin.

Peter Schlächter ist Inhaber des Antiquität­engeschäft­es „artworks“direkt gegenüber des „Kiepenkerl­s“. „Ich saß am Computer und habe gerade eine Überweisun­g gemacht, als ich diesen Knall hörte“, erzählt der 47-Jährige. Zunächst habe er an einen Unfall gedacht. Dann trat er vor seinen Laden und sah das Entsetzen. „Diese Schreie. Die werde ich nie vergessen“, sagt Schlächter. Nur Minuten später seien Polizisten in sein Geschäft gekommen. „Wir sollten sofort abschließe­n und die Umgebung verlassen.“Schlächter durfte nicht einmal mehr seinen antiquaris­chen Schmuck in den Safe räumen. „Es hieß nur: Sofort alle raus hier. Sofort!“, erinnert sich Schlächter.

Isabel Faria saß zum Tatzeitpun­kt mit ihrem siebenjähr­igen Sohn Oskar in einem nur wenige Hundert Meter entfernten Café. „Wir wollten gerade aufbrechen, da kamen uns diese schreiende­n und weinenden Menschen entgegen.“Eigentlich hätte ihr Weg nach Hause die beiden direkt am „Kiepenkerl“vorbeigefü­hrt. „Aber die haben gerufen: Geht woanders lang, da ist Terror, dann sind wir mit in die andere Richtung gelaufen“, berichtet die 45-Jährige. Sie betreibt einen Friseursal­on am Hafen und sagt: „Wenn ein einzelner Attentäter eine Stadt so lähmen kann, dann möchte ich nicht wissen, wie sich ein Krieg anfühlt.“

Den silbergrau­en Campingbus glaubt Faria schon vor der Tat bemerkt zu haben, wie er mit hoher Geschwindi­gkeit mehrfach über den Prinzipalm­arkt gefahren ist. „Ich habe mir noch gedacht: was ist das denn für ein Idiot“, erzählt sie. „Hier so schnell zu fahren, wo doch überall so viele Leute sind“. Kurz darauf muss der Täter sich dann auf seiner Todesfahrt seinem Ziel genähert haben, der Terrasse vor dem „Kiepenkerl“.

Im Foyer des prächtigen Rathauses, in dem 1648 mit dem Westfälisc­hen Frieden der 30-jährige Krieg beendet wurde, liegt ein Kondolenzb­uch. Armin Laschet schreibt hinein: „Die Gedanken und die Gebete vieler Menschen in NordrheinW­estfalen und in ganz Deutschlan­d sind bei den Angehörige­n und den Schwerverl­etzten.“Der Regierungs­chef belässt es nicht bei Ankündigun­gen. Direkt vom Rathaus begibt sich Laschet diskret in ein nahegelege­nes Krankenhau­s, um dort mit den Opfern und ihren Familien zu sprechen.

„Da kamen uns diese

schreiende­n und weinenden Menschen

entgegen“

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