Rheinische Post Hilden

Orpheus kommt aus Peru

- VON REGINE MÜLLER

Der Tenor Juan Diego Flórez trat mit der NDR-Radiophilh­armonie Hannover in der Tonhalle auf. Es gab großen Jubel der Zuhörer.

Es gibt Konzertabe­nde, bei denen man nach den ersten Sekunden ganz genau weiß, dass sie großartig werden. Dann liegt sofort eine künstleris­che Hochspannu­ng in der Luft, der nichts Flaues unterlaufe­n wird. So ist es in der Tonhalle, wenn der Dirigent Riccardo Minasi die Ouvertüre zu „La Clemenza di Tito“von Wolfgang Amadeus Mozart mit der famosen NDR-Radiophilh­ar- monie Hannover und mit atemberaub­enden Spannungsb­ögen aus dem Stand zum ersten Höhepunkt formt.

Dabei ist der Star des Abends noch gar nicht auf der Bühne. Denn die Ouvertüre ist nach der typischen Dramaturgi­e solcher Star-SängerAben­de ja eigentlich nur zum Aufwärmen gedacht. Aber so soll es den ganzen langen Abend über bleiben: Jedes orchestral­e Intermezzo zwischen Juan Diego Flórez’ Auftritten gerät zum Ereignis, ist klug platziert und niemals bloß absolviert­e Pausenmusi­k.

Doch dann kommt er. Juan Diego Flórez, dessen seltenes Stimmfach mit „Tenore di grazia“wahrlich treffend beschriebe­n ist, öffnet bereits mit der ersten aufsteigen­den Sexte der „Bildnis-Arie“aus Mozarts „Zauberflöt­e“die Tore weit zu einer Dimension, die den allermeist­en Sängern für immer verschloss­en bleibt. Sein cremiger, hell timbrierte­r Tenor spricht in allen Lagen völlig mühelos an, kennt weder Höhen- ängste noch Luftnot, sondern fließt in nicht enden wollendem LegatoGold in den Raum.

Er singt Mozart mit betörendem Schmelz, formuliert ganz frei und moduliert mit so viel musikalisc­her Intelligen­z, dass Mozarts Wunschkonz­ert-Arie plötzlich ganz neu klingt, inniger und intimer als je gehört. Es folgt mit „Si spande al sole in faccia“aus „Il re pastore“eine hochvirtuo­se Koloratur-Arie, die Flórez elegant und mit höchster Mozart-Stilkompet­enz singt.

Von Anfang an war Flórez berühmt für seine sichere Höhe und feuerte früher bei seinen Auftritten Rossinis und Donizettis KoloraturK­askaden und hohe C’s in Serie ab. Nun erobert er mit Mozart, Gluck, Massenet und Verdi neues Terrain und hat das Prunken mit Spitzentön­en nicht mehr nötig. Obwohl sie ihm natürlich nach wie vor zu Gebote stehen.

Mit 45 Jahren steht die künstleris­che Durchdring­ung im Mittelpunk­t, das Aufgehen im inspiriert­en Moment, die Spontanitä­t der Gestaltung. Flórez ist völlig frei, denn er ist eins mit seinem Instrument, nicht der Hauch eines Ansatzgerä­usches ist zu vernehmen, er scheint auch kein Passaggio zu kennen, die Stimme strömt bruchlos und kann sich vom kernigen Forte in kopfstimmi­ges Leuchten gleichsam entmateria­lisieren, ohne den Körperklan­g zu verlieren.

Es ist nichts weniger als ein Mirakel, und wenn er den großen Klagegesan­g „J’ai perdu mon Eurydice“aus Glucks „Orfeo ed Eurydice“anstimmt, glaubt man, den mythischen Sänger Orpheus in dem peruanisch­en Tenor mit dem hinreißend­en römischen Profil zu erkennen. Vor der Pause blickt er mit Donizettis „Tombe degli avi miei“noch einmal zurück an die Anfänge seiner Karriere, dann geht es im zweiten Teil vorwärts zu Massenet und Verdi.

Auch das französisc­he Repertoire liegt ihm treff lich, sein Werther flammt vor Emphase, und das fran-

Schon die Mozart-Arie öffnet Tore zu einer Dimension, die vielen Sängern für immer verschloss­en bleibt

zösische Idiom zaubert wieder neue Farben in seine Stimme. Dann folgt Verdi, er wagt sich an den Herzog von Mantua aus „Rigoletto“, vergreift sich klugerweis­e aber nicht an „La donna è mobile“, sondern singt „Questa o quella“, wo er es fertig bringt, die ganze erste Phrase auf einen Atem zu singen. Überhaupt legt er Verdis Wurzeln im Belcanto frei, geht ihn leicht und schlank an, ohne Fortissimo-Muskelspie­l und veristisch­e Nachdrücke­r.

Riccardo Minasi reagiert stets mit der Gelenkigke­it eines Schlangenb­eschwörers und federt jeden spontanen Einfall des Sängers perfekt ab. Nach dem offizielle­n Programm kommt Flórez mit der Gitarre auf die Bühne und nimmt die Stimme mit „Cucurrucuc­ú paloma“fast ins Nichts zurück. Dann wieder mit Orchester beschließt „Granada“den denkwürdig­en Abend.

Großer Jubel.

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FOTO: BB PROMOTION Neuerdings wendet sich der Tenor Juan Diego Flórez auch französisc­her Literatur zu.

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