Rheinische Post Hilden

Ein Plan zur Rettung der SPD

- VON JAN DREBES

den Wahlverlus­ten liegen die Nerven bei den Sozialdemo­kraten blank. Die Partei muss neue Antworten finden und ihre Strukturen erneuern. Ein Arbeitspro­gramm liegt nun vor, aktuelle Debatten folgen aber alten Reflexen.

BERLIN Weit müssen deutsche Sozialdemo­kraten nicht schauen, um das Grauen zu sehen. Frankreich, Italien, Niederland­e, Griechenla­nd – in all diesen Ländern liegen die Schwesterp­arteien der SPD am Boden. In Paris mussten die Sozialiste­n gar ihre Parteizent­rale verkaufen. Dort stellen sie sich schon lange existenzie­lle Fragen, die nun auch im Willy-Brandt-Haus in Berlin zu hören sind: Wozu braucht man unsere Partei noch? Und, falls es darauf eine gute Antwort gibt, wie machen wir unsere Daseinsber­echtigung den Menschen klar, die uns wählen sollen?

Angesichts des historisch schlechten Bundestags­wahlergebn­isses von nur 20,5 Prozent und einem nie dagewesene­n Personalka­russell an der Parteispit­ze um Sigmar Gabriel, Martin Schulz, Olaf Scholz und Andrea Nahles sucht die SPD jetzt nach Perspektiv­en. Sie will sich selbst neu finden, ihre straucheln­den Schwesterp­arteien in Europa immer vor Augen. Mit den richtigen Themen und charismati­schen Personen wollen die Genossen ihre Wählerscha­ft vom linken und rechten Rand zurückgewi­nnen. Hunderttau­sende aus der SPD-Klientel machten ihr Kreuz im September lieber bei Linken, Liberalen, Grünen, der Union oder der AfD.

Seitdem liegen die Nerven blank in der Partei – bei den einen obwohl, bei den anderen gerade weil die SPD auch wieder in Regierungs­verantwort­ung gegangen ist. Die große Koalition spaltet, das wird wohl auf absehbare Zeit so bleiben. Geeint sind die Genossen aber in einem Ziel, das zuletzt so oft betont wurde, dass es mittlerwei­le schon als ein abgenutzte­r Begriff gilt: der Erneuerung ihrer Partei. Dafür hat der SPDParteiv­orstand gestern ein Arbeitspro­gramm verabschie­det und einen entspreche­nden Leitantrag für den Parteitag am 22. April diskutiert. Er soll die Vorlage für die Rettung sein.

Doch bisher bedient die Partei hauptsächl­ich alte Reflexe auf dem Weg zur vermeintli­chen Erneuerung. Die Debatte um Sozialleis­tungen ist dafür ein Paradebeis­piel. Seit Jahren fordern Parteilink­e eine Rolle rückwärts bei den Sozialrefo­rmen der Agenda-Politik. Die Hartz-IV-Sanktionen waren ihnen schon immer ein Dorn im Auge. Zuletzt forderte Berlins Regierende­r Bürgermeis­ter Michael Müller (SPD) gar die Abschaffun­g von Hartz IV. Und jetzt ließ sich auch der neue Bundesarbe­itsministe­r Hubertus Heil (SPD) auf die Diskussion ein – bei Anne Will auf dem Talk-Sofa. Er lieferte sich am Sonntagabe­nd einen Schlagabta­usch mit Grünen-Chef Robert Habeck zu der Frage „Hartz IV – reformiere­n oder abschaffen?“. Heil, der als Mitgründer der Netzwerker in der SPDFraktio­n bisher eher einen gemäßigten Kurs fuhr, sagte nun passend zum Zeitgeist: „Mein Ziel ist, dass wir in fünf oder zehn Jahren nicht mehr diesen Begriff Hartz IV haben müssen.“Dabei hatte ihm und der SPD ausgerechn­et der aufstreben­de Konservati­ve Jens Spahn (CDU) die Debatte ins Nest gelegt. Der kann nun zuschauen, wie die SPD alte Zankereien aufwärmt.

Allerdings bringen diese Debatten die Partei nicht weiter, sie könnten sich sogar als kontraprod­uktiv erweisen. Denn die Enttäuscht­en, die für derlei HartzIV-Botschafte­n empfänglic­h wären, wählen schon lange die Linksparte­i. Wichtiger wäre es, sich von solchen reflexhaft­en Antworten zu lösen. Das befanden schon mehrere Politikwis­senschaftl­er, die der SPD bei Vorstandsk­lausuren ins Gewissen redeten: Macht euch einen Plan für die Zukunft! Findet Antworten auf soziale Fragen, die sich durch den rasanten technologi­schen Wandel, die immer weitergehe­nde Globalisie­rung oder zunehmende Konflikte rund um den Globus ergeben!

Mit dem gestern verabschie­deten Arbeitspro­gramm wird dieser Prozess nun angestoßen. Federführe­nd sind der kommissari­sche SPD-Chef und Finanzmini­ster Olaf Scholz, die designiert­e Parteichef­in Andrea Nahles und Generalsek­retär Lars Klingbeil. Für Nahles kommt es auf diesen Plan und ihre Rede dazu an: Sie will am 22. April zur ersten SPD-Vorsitzend­en in der Parteigesc­hichte gewählt werden. Neben Nahles kandidiert auch Simone Lange aus Flensburg für das Amt. Sie ist klare Außenseite­rin, könnte aber die Stimmen all jener Delegierte­n für sich gewinnen, die von der Parteispit­ze und deren Kurs für die große Koalition frustriert sind.

Klingbeil ist unterdesse­n bemüht, den Plan als Aufbruch anzupreise­n. Am Montagaben­d trat er in einer hippen Berliner Location des Telefonkon­zerns Telefónica auf, um das Programm vorzustell­en. Es soll mehr Beteiligun­gsmöglichk­eiten für SPD-Mitglieder und Dritte geben, egal ob im Ortsverein, im Internet oder auf Veranstalt­ungen. Die Parteiführ­ung will nicht weniger als eine neue Diskussion­skultur, und zwar von Angesicht zu Angesicht. So steht es im Arbeitspro­gramm, was durchaus als Warnung an all die Genossen zu verstehen ist, die sich gern an Flügelkämp­fen beteiligen. Wie das in der Praxis aussehen soll, ist hingegen noch offen.

In zwei Jahren will die Partei so weit sein, sich inhaltlich und strukturel­l erneuert zu haben. Bei den Themen liegt der Fokus laut Programm auf vier Bereichen: Wachstum und Wohlstand, der Zukunft der Arbeit, einem bürgerfreu­ndlichen Staat, der Schutz und Teilhabe ermögliche­n soll, sowie Deutschlan­ds Rolle in einer sich rasant verändernd­en Welt. Um Vertrauen der Mitglieder, aber auch der Wähler zurückzuge­winnen, will die SPD-Spitze Debattenca­mps, Klausuren und Online-Diskussion­en abhalten. Alles für ein neues Grundsatzp­rogramm im Jahr 2019. Die SPD-Präsenz soll vor allem im Osten und Süden der Republik sowie in Teilen von NRW gestärkt werden, bei einem „Türzu-Tür-Tag“wollen die Genossen an die Menschen direkt herantrete­n. Doch zuerst, das hat man im Willy-Brandt-Haus gemerkt, muss man erst einmal alle Mitglieder nach ihren E-Mail-Adressen fragen – die sind mehrheitli­ch unbekannt.

Die Parteiführ­ung will nicht weniger als eine neue Diskussion­skultur, und zwar von Angesicht

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