Rheinische Post Hilden

48-Jähriger hatte Henkerskno­ten in Wohnung

- VON F. HEIN, T. REISENER UND M. STÖCKER

Jens R., der mit seiner Amokfahrt in Münster zwei Menschen tötete, war psychisch labil und hinterließ eine Art „Lebensbeic­hte“.

MÜNSTER Bei der Durchsuchu­ng der Wohnung des mutmaßlich­en Amokfahrer­s von Münster hat die Polizei neben mehreren Behältern mit Benzin und anderen Flüssigkei­ten ein über einen Balken gelegtes Hanfseil mit Henkerskno­ten entdeckt. „Die geplante Verwendung der Stoffe und die Herkunft sind zum jetzigen Zeitpunkt unklar“, sagte Oberstaats­anwalt Martin Botzenhard­t. „Das Seil jedoch ist ein eindeutige­r Hinweis.“Nach der bisherigen Analyse und Auswertung der vorliegend­en Dokumente, Spuren und Aussagen sind die Ermittler sicher, dass der 48-Jährige in Suizidabsi­cht handelte.

Jens R. hatte am Samstag seinen Multivan auf die Terrasse einer Kneipe in Münster gesteuert, dabei zwei Menschen getötet, mehr als 20 verletzt und dann sich selbst erschossen. Im Magazin der im ehemaligen Jugoslawie­n hergestell­ten Pistole befanden sich noch weitere Patronen, so die Polizei.

In einer Art selbst verfassten „Lebensbeic­hte“schildert R., dass er als Kind von seinen Eltern drangsalie­rt worden sei. Im Alter von sieben Jahren habe er sich zum ersten Mal gewünscht, tot zu sein. Er habe unter großen Schuldkomp­lexen, Verhaltens­störungen und Aggression­sausbrüche­n gelitten. R. schreibt von Panikattac­ken, Alkoholmis­sbrauch und aggressive­n Übergriffe­n. So soll er 2014 mit einem Beil die Möbel in der Wohnung seiner Eltern zerstört haben. Die Polizei hatte in seiner Wohnung dieses mehrseitig­e Dokument gefunden, in dem Jens R. über sein Leben spricht. Es liegt unter anderem dem Recherchev­erbund aus „Süddeutsch­er Zeitung“, WDR und NDR im Wortlaut vor.

Auch durch sein soziales Umfeld habe R. sich getäuscht gefühlt. Seinen Freunden warf er vor, ihn bespitzelt zu haben. Seine Kunden sollen nicht alle Rechnungen bezahlt haben. Außerdem schreibt er über eine Rückenoper­ation nach einem Treppenstu­rz. Er wirft Ärzten vor, Fehler gemacht zu haben, deshalb habe er seitdem große Schmerzen.

2015 und 2016 ließ er sich mehrfach vom sozialpsyc­hiatrische­n Dienst der Stadt Münster beraten, zuletzt am 19. Dezember 2016. Dann bricht der Kontakt ab. Laut Informatio­nen des „Spiegel“überwirft er sich mit seinem Vater, als dieser den Behörden meldet, dass sein Sohn Suizidabsi­chten habe. R. zeigt seinen Vater wegen Verleumdun­g an. „Mein Sohn hat eine schwere Nervenkran­kheit gehabt“, erzählt der Vater dem „Spiegel“, „eine Art Schizophre­nie, er litt unter Bewusstsei­nsveränder­ung und unter Verfolgung­swahn.“R. habe sich Dinge eingebilde­t, die nicht stimmten, die keinen Sinn ergaben.

Polizei und Staatsanwa­ltschaft betonen jedoch, eine eindeutige Suizidabsi­cht habe der Mann vor der Tat weder dargelegt noch gegenüber Dritten geäußert. „Die mehrfach wahllos an Dritte übersandte­n Nachrichte­n enthalten keine ausdrückli­che Ankündigun­g einer Selbsttötu­ng“, erklärten die Behörden. Sie seien jedoch Ausdruck einer zumindest temporären, psychische­n Labilität. Warum R. ausgerechn­et die Gaststätte „Kiepenkerl“auswählt, bleibt offen. Noch konnten die Ermittler keine Beziehung des Täters zum Tatort herstellen.

Am Sonntag hatte die Polizei noch berichtet, der Täter habe Ende März eine Mail an Nachbarn und Bekannte geschriebe­n, in der er „vage Hinweise auf suizidale Gedanken“andeutete. Es habe aber keinerlei Anhaltspun­kte für die Gefährdung anderer Personen gegeben. Zudem hatte die Stadt Münster berichtet, er habe öfters Kontakt zum sozialpsyc­hiatrische­n Dienst gehabt.

Die Ermittler versuchen nun, eine Art Bewegungsp­rofil des Todesfahre­rs zu erstellen. „Wir konzentrie­ren uns jetzt darauf, ein möglichst umfassende­s Bild über das Verhalten des Täters in den Vorwochen zu erhalten“, sagte Münsters Polizeiprä­sident, Hajo Kuhlisch. Allein über das Hinweispor­tal des Bundeskrim­inalamtes wurden von Zeugen bislang rund 40 Dateien hochgelade­n. Wichtig ist es zu klären, wie der Täter in den Besitz der Waffe gelangt ist und ob sie schon einmal im Zu- sammenhang mit einer Straftat eingesetzt wurde. Fest steht, so NRWInnenmi­nister Herbert Reul (CDU), dass R. keinen Waffensche­in besaß. Die Waffe, mit der er sich getötet hat, kann er daher nicht rechtmäßig erworben haben.

Jens R. soll an der Fachhochsc­hule in Münster Design studiert haben. Als selbststän­diger Industried­esigner soll er viel Geld mit Lizenzen verdient haben – unter anderem mit einem Patent auf eine Lampe. Er soll drei Wohnungen besessen haben – eine in Münster und zwei in Sachsen, dazu mehrere Autos.

Die meisten Schwerverl­etzten der Amokfahrt stammen nach Angaben der Uniklinik Münster (UKM) aus der Region, darunter aus Hamm, dem niedersäch­sischen Vechta und aus den benachbart­en Niederland­en. „Bei den Verletzung­en mussten wir uns um Kopf-, aber auch um schwere Beckenverl­etzungen kümmern“, sagte der Direktor der Klinik für Unfallchir­urgie, Michael Raschke. Gestern wurden noch zwei der Opfer operiert, drei schweben weiterhin in Lebensgefa­hr. Zwei der acht Patienten, die in die Uniklinik gebracht worden waren, konnten sie inzwischen verlassen. Dafür hat das UKM eine Patientin aus einem anderen Krankenhau­s übernommen.

Am Sonntagabe­nd nahm NRWMiniste­rpräsident Armin Laschet (CDU) an einer Gedenkvera­nstaltung teil und besuchte später ohne öffentlich­es Aufsehen noch Opfer im Krankenhau­s. Nicht nur das symbolisch­e Krisen-Management der Landesregi­erung hat in Münster gut funktionie­rt. Erst vor wenigen Monaten berief NRW auf Anregung von Laschets Regierung erstmals eine Opferschut­zbeauftrag­te. Elisabeth Auchter-Mainz führte gestern den ganzen Tag über in Münster mit Opfern und Angehörige­n Gespräche. Heute will sie diese fortsetzen.

„Wir mussten uns um Kopf-, aber auch um schwere Beckenverl­et

zungen kümmern“

Michael Raschke

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FOTO: DPA Kerzen und Blumen liegen am Tatort vor dem Denkmal des Kiepenkerl­s. Auch die Gaststätte im Hintergrun­d trägt diesen Namen.

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