Das Haus der 20.000 Bücher
Marx war zwar weiterhin ein Thema, doch nun, da sich der Salon langsam umgestaltete, ohne die einstige unkritische Haltung gegenüber den politischen Systemen, die behaupteten, sich auf ihn zu stützen. Obwohl Mimi ganztags arbeitete, zwei kleine Kinder zu versorgen hatte und wahrscheinlich auch mit Chimens postkommunistischer Schwermut fertig werden musste, bewirtschaftete sie Küche und Esszimmer wie eine Art Restaurant für umherziehende Intellektuelle, Familienmitglieder, Freunde und Freundesfreunde aus aller Welt. Die Gesprächsthemen jedoch waren nicht mehr so einseitig wie in früheren Jahren, die Gäste bunter gemischt. Ein Hauch von Nostalgie haftete manchen Unterhaltungen an, eine Spur von Bedauern über verlorene Welten, von Bitterkeit über verratene Träume.
Den Salon in Gang zu halten sei „ein ungeheurer Kraftakt“gewesen, erinnerte sich meine Cousine Alice aus Kalifornien, die den Hillway in den späten Sechzigern, ein Jahrzehnt nach seiner Neugeburt, aufzusuchen begann. Und doch schienen Mimi „die Dinge, die sie für andere tat, Freude zu machen. Der erste Gang des Dinners war stets Suppe, denn Chimen wünschte sich Suppe. Und es endete mit Tee, Zitronentee oder englischem Tee. Chimen pflegte sich zu erkundigen: ,Und nun habe ich eine sehr wichtige Frage. Wer möchte Tee oder Kaffee?’ Am frühen Abend saßen nur wenige Gäste am Tisch, doch zu späterer Stunde waren es meistens zwölf, und Mimi hatte es geschafft, allen sämtliche Gänge zu servieren. Dieser Tisch schien sich endlos erweitern zu lassen.“
„Das Haus war immer voller Menschen“, entsann sich meine Tante Jenny viele Jahre später. Als Kind muss sie sich manchmal wie in einem politischen Erziehungslager gefühlt haben. „Sie kamen aus aller Welt, jeder mit seinen eigenen Erfahrungen. Und dauernd, Abend für Abend, fanden am Tisch politische Vorträge und Debatten statt. Da ich noch klein war, schenkte mir niemand Aufmerksamkeit. Ich erinnere mich, dass ich mich einmal beklagte: ,Marx, Marx, Marx – immer nur Marx! Warum müssen wir immerzu über Marx reden?’“An manchen Abenden kam es zu heftigen Auseinandersetzungen darüber, wie man Marx’ Schriften interpretieren oder Ereignisse in der Sowjetunion beurteilen solle. Nicht selten stieß jemand seinen Stuhl zurück und stürmte theatralisch aus dem Haus. Jenny reagierte darauf, indem sie bewusst nichts von der politischen Lehre im Gedächtnis behielt, der sie am Esstisch ausgesetzt war. Doch es kam noch ärger: Ende der fünfziger Jahre wurde sie bei einem Test rund ums Allgemeinwissen an ihrer Highschool nach dem Autor von Mein Kampf gefragt und versicherte selbstbewusst: „Karl Marx.“Als Chimen davon erfuhr, war er wie vom Donner gerührt. Ich kann mir lebhaft vorstellen, wie er die Augen aufriss und mit den Zähnen knirschte. Allerdings weiß ich nicht, ob er dann lächelte und den Fehler seiner Tochter nur milde tadelte oder ob er zu einem langen politischen Vortrag ansetzte. Ich wünsche mir Ersteres, doch Letzteres dürfte wahrscheinlicher gewesen sein.
Jahre später, wenn Chimen sich in Erinnerungen an sein Leben erging, erwähnte er dann und wann beiläufig, dass der ein oder andere der damaligen Tischgäste in einem iraki- schen Gefängnis erschossen worden oder irgendwo in einem schrecklichen Kerker verschwunden sei. Einer seiner engen Freunde war der italienische Verleger Feltrinelli gewesen: Er hatte Chimen in den fünfziger und sechziger Jahren geholfen, überall auf der Welt nach seltenen sozialistischen Texten zu fahnden, und war häufig mit seiner Frau im Hillway zu Gast gewesen. Inzwischen hatte er sich linksextremistischen Aktivitäten zugewandt und kam 1972, in einer Zeit politischer Unruhen in Italien, durch eine Bombenexplosion ums Leben. Es konnte nie mit Sicherheit gesagt werden, ob er bei der Vorbereitung eines Sabotageakts den Sprengmechanismus versehentlich auslöste, während er die Bombe an einem Hochspannungsmast in der Nähe von Mailand befestigte, oder ob er einem Anschlag zum Opfer fiel. Auch Solomon Michoels, der künstlerische Leiter des Moskauer Staatlichen Jüdischen Theaters, den Chimen im Krieg kennengelernt und der die jüdischen Kommunisten in London aufgerufen hatte, die Sowjetunion zu unterstützen (er sei, schrieb Chimen später, der „herausragende sowjetische Jude des Zweiten Weltkriegs“gewesen), entging seinem Schicksal nicht. Am 19. Januar 1948 wurde er auf Geheiß des zunehmend paranoiden und antisemitischen Stalin in Minsk ermordet: Ein Lastwagen überfuhr ihn. Es sollte nach einem Unfall aussehen. Kurz darauf verhaftete man fünfzehn führende Mitglieder des Jüdischen Antifaschistischen Komitees in der Sowjetunion. Es handelte sich um bekannte jüdische Intellektuelle; ein Jahr nachdem Hitler seine Soldaten nach Osten in die Sowjetunion geschickt hatte, war die Gruppe auf Stalins Befehl gegründet worden. Sie sollte helfen, internationalen Beistand für die Sowjetunion zu gewinnen, insbesondere in den Vereinigten Staaten und Großbritannien. In einer geheimen Gerichtsverhandlung wurden im Juli 1952 alle Angeklagten zum Tode verurteilt. Welten lagen zwischen diesen Ereignissen und Chimens Briefwechsel mit Harold Laski, in dem die beiden kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs die Tatsache gefeiert hatten, dass der Antisemitismus in der UdSSR zu Grabe getragen worden sei.
Allzu spät begriff Chimen die Sachlage, die der russische Revolutionär und Memoirenschreiber Victor Serge bereits Jahre vorher erkannt hatte. Serge, der sich zu Beginn von Stalins mörderischer Herrschaft in Moskau aufhielt, schilderte, wie die Revolution ihre Kinder verschlang, wie die führenden Politiker, Intellektuellen, Generäle und Wirtschaftsfachleute der Sowjetunion einer nach dem anderen verhaftet und ermordet wurden. Wie jegliche Kritik den Tod nach sich ziehen konnte. Wie jeder Vorwand recht war, um eine Fraktion oder eine Gruppe von Freunden zu beseitigen. Wie Millionen infolge von Stalins Kollektivierungsplänen zum Hungertod verurteilt waren. Über die Schauprozesse, die für diesen Zeitraum typisch waren, schrieb er: „Es war reiner Wahnsinn . . . Das Politbüro kannte die Wahrheit nur zu gut. Die Prozesse dienten einem einzigen Zweck: Man wollte die öffentliche Meinung in der Heimat und im Ausland manipulieren.“Später betonte Serge, dass „der Totalitarismus keinen gefährlicheren Feind hat als den Geist der Kritik, den er mit allen Mitteln ausrotten will“. (Fortsetzung folgt)