Nur bedingt nobel
Betrugs- und Missbrauchsskandalen im Umfeld der Jury hat die Schwedische Akademie entschieden, in diesem Jahr keinen Literaturnobelpreis zu vergeben. Der Faszination dieser Ehrung wird aber auch das nicht schaden.
STOCKHOLM All die Querelen, die Skandale und Skandälchen rund um den Literaturnobelpreis sind viele Jahre nicht nur billigend, sondern auch wohlwollend in Kauf genommen worden. Die Skurrilität dieser bisweilen autistisch anmutenden Institution gehörte zur Folklore der Stockholmer Jury und ihrer Arbeit. Nun aber ist der Bogen überspannt. Und die Meldung des gestrigen Tages, dass der Literaturnobelpreis in diesem Jahr nicht vergeben wird, ist in der Geschichte dieses Komitees zwar nicht einzigartig, gleichwohl aber historisch zu nennen. Für dieses Fiasko reichten Erosionen am Rande. Denn eigentlich dreht sich das meiste um den Franzosen JeanClaude Arnault. Der ist Ehemann der vielfach dekorierten schwedischen Dichterin Katarina Frostenson, die wiederum Mitglied der Akademie ist. Allein das verhalf Arnault offenkundig zu Macht und Einfluss, den er kriminell zu nutzen wusste. Wenigstens sieben Namen von Nobelpreisträgern soll er vorzeitig ausgeplaudert haben – was bei den obligatorischen Wetten lukrativ werden konnte. Zudem soll sich das Paar für einen eigenen Kulturverein Fördergelder der Akademie zugeschanzt haben. Vor allem aber wird Arnault sexueller Missbrauch vorgeworfen; 18 Frauen konfrontieren ihn mittlerweile mit diesem Vorwurf. Auch Kronprinzessin Victoria soll er belästigt haben. Das macht den Missbrauch zwar nicht schlimmer, doch sorgt das prominente mutmaßliche Opfer für eine noch größere Aufmerksamkeit.
Genau die hat die Jury lange auszublenden versucht. Ein „unakzeptables Verhalten in Form von unerwünschter Intimität“wird Arnault in einer Untersuchung attestiert. Das Bemühen, zur Tagesordnung überzugehen, scheiterte. Weil Frostenson gehen musste und kurz darauf auch die Ständige Sekretärin, Sara Denius. Weitere Mitglieder legten ihr Amt nieder, so dass von einst 18 zuletzt nur zehn aktiv waren. Eine nachhaltige Dezimierung, denn nach den Statuten bleibt man Mitglied der Akademie bis zum Ableben.
Mit dem Schwund der Jury sank auch deren Glaubwürdigkeit. Weil darunter der Literaturnobelpreisträger 2018 mit Sicherheit zu leiden gehabt hätte, griff man – nicht ganz korrekt – in die Trickkiste und beruft sich jetzt auf die Möglichkeit, die Entscheidung um ein Jahr verschieben zu können. Eigentlich gilt das nur für den Fall, dass man keinen geeigneten Kandidaten finden kann. Zuletzt war das 1949 der Fall, als man William Faulkner den Stockholmer Lorbeer ein Jahr später nachreichte. Doch darum geht es diesmal nicht. Ein geeigneter Kandidat dürfte sich wahrscheinlich finden lassen (die engere Auswahlliste mit nur fünf Namen soll bereits vorliegen), nur mangelt es jetzt offenkundig an einer geeigneten Jury.
Wie so oft. Die Geschichte des Literaturnobelpreises ist nämlich eine Geschichte der Kritik am Nobelpreis und seiner Träger. Dabei muss es nicht immer so dramatisch zugehen wie 1974 mit der Preisvergabe an den Lyriker Harry Martinson, der sich als Akademiemitglied praktisch selbst gewählt hatte und den Spott darüber nur so schwer ertragen konnte, dass er sich vier Jahr später das Leben nahm. Auch früher gab es immer wieder Gekungel in den Reihen der scheinbar ehrwürdigen Literaturrichter. Oft war es auch ein regelrechtes Geschacher wie 1908. Dem damaligen Ständigen Sekretär Carl David af Wirsén ging es darum, die von ihm geschmähte Selma Lagerlöf zu verhindern. Mit dem Briten Algernon Swinburne schickte er darum einen formidablen Schein-Kandidaten ins Rennen. Eine Einigung fand wie erhofft nicht statt, so dass der Blick auf einen geschickt lancierten Alternativanwärter fiel: den schon damals unbedeutenden deutschen Philosophie-Professor Rudolf Christoph Eucken – ein Preisträger von zweifelhafter Eignung.
Mag sein, dass die Jury unnahbar erscheint, selbstherrlich ist sie auf jeden Fall – weil jedes Gremium dieser Art in gewisser Weise selbstherrlich sein muss. Wie sonst könnte man eine Entscheidung unter zahllosen guten Kandidaten weltweit wirklich treffen? Jede Wahl ist und muss in diesem Sinne ungerecht sein. Doch beim Nobelpreis kommt erschwerend hinzu, dass die Akademie-Mitglieder skandinavischer Herkunft sein müssen und das Übergewicht europäischer und nordeuropäischer Preisträger auch diesem Umstand geschuldet zu sein scheint. Und wer ist nicht schon alles verschmäht worden? James Joyce etwa, John Updike, Thomas Pynchon, J.D. Salinger, Philip Roth.
Ein anderes Relikt der Akademie ist diese alberne Amtsinhaberschaft auf Lebenszeit, die es mit Rücktritt von Benedikt XVI. selbst beim Papsttum nicht mehr gibt. Auch wenn Vorschläge aus aller Welt in Stockholm eintreffen, so bleibt es doch die immer gleiche Schar der Juroren mit ihren immer gleichen Vorlieben. Alles spricht also dafür, die Statuten unerschrocken zu überdenken und klug zu überarbeiten. So wie es die Schriftstellerin Sibylle Lewitscharoff gewohnt handfest formuliert: „Da muss einfach mal ausgemistet werden, einmal mit dem Besen durch, dann machen wir weiter.“
Leichter gesagt als getan. Dass man jetzt die Preisverleihung nur um ein Jahr verschiebt und sich an alte Regeln zu halten versucht, lässt den unguten Verdacht aufkommen, dass die Änderungen zur Lösung dieses Problems dezent ausfallen könnten. Der Literaturnobelpreis ist so, wie er sich präsentiert, purer Anachronismus. Es gäbe 1000 Gründe, ihn nicht mehr ernst zu nehmen. Doch alle Bedenklichkeiten werden das Interesse an dieser mit 750.000 Euro dotierten Ehrung und die Hysterie um jeden Preisträger kaum mindern. Vielleicht ist es ja genau dieser verstaubte Laden, der uns so fasziniert.
Auf Dauer ist ein Anachronismus nur bedingt unterhaltsam. Die Pause in diesem Jahr ist eine Chance für die Akademie, den Preis und – um sie nicht ganz zu vergessen – die Literatur.
Der ungute Verdacht kommt auf, dass die Änderungen zur Lösung dieses Problems dezent
ausfallen könnten