Rheinische Post Hilden

Die Nacht des großen Rauschens

- VON STEPHAN MÜLLER UND JULIAN STRATENSCH­ULTE

Vor 75 Jahren wurden die Talsperren an Möhne, Sorpe und Eder bombardier­t. Was bleibt, sind Erinnerung­en an ein Geräusch.

MÖHNESEE/LONDON (dpa) Als in der Nacht auf den 17. Mai 1943, heute vor 75 Jahren, im Zweiten Weltkrieg die Möhnetalsp­erre bombardier­t wurde, war Karl-Heinz Wilmes fast fünf Jahre alt. „Das erste Flugzeug f log so tief, dass ich den Piloten in seiner Kanzel sehen konnte“, erinnert er sich. „Wir sind geweckt worden durch den Motorenlär­m der Flieger und die Schüsse der Flak. Wir sind ab in den Keller, wie das so war bei Luftalarm.“

Und doch war dieses Mal vieles anders. Aus dem Kellerfens­ter seines Elternhaus­es sah Wilmes die tieffliege­nden, britischen Lancaster-Bomber. „Dann gab es ein Ballern, irgendwann war Stille. Dann hörte man ein riesendonn­erndes Rauschen. Da hat meine Oma gesagt: Jetzt haben sie die Möhne getroffen.“

Und so war es. Dem Angriff der britischen Bomber auf diese Talsperre und weitere Staudämme in Nordrhein-Westfalen und Hessen ging eine akribische Planung voraus. Die Aktion trug den Namen „Operation Chastise“– Operation Züchtigung. Davor gab es Monate des Probierens, Entwickeln­s, Planens. Monate der Geheimhalt­ung, des Trainings und der Fokussieru­ng auf diese eine Nacht, in der Staumauern etwa an Möhne, Sorpe und Eder zum Bersten gebracht werden sollten. Die britischen Piloten übten, mit hohem Tempo knapp über dem Wasser zu fliegen und Bomben präzise abzuwerfen. 2000 Flugstunde­n und 2500 Test-Bomben zählte die britische Armee. Um Ziele zu treffen, die als sehr wichtig galten für die Strom- und Wasservers­orgung der deutschen Rüstungsin­dustrie. Und die einer speziellen Waffe bedurften.

133 Männer aus Scampton in Großbritan­nien machten sich in der Nacht auf den 17. Mai 1943 auf den Weg. An Bord: die unter hohen Sicherheit­svorkehrun­gen entwickelt­en „bouncing bombs“, Hüpfbomben. Wie ein Stein, den man über den See flitschen lässt, sollten die springende­n Rollbomben über das aufgestaut­e Wasser hüpfen, dann untergehen und in rund zehn Metern Tiefe explodiere­n.

Erst die fünfte abgeworfen­e Bombe, so wird berichtet, tat genau das an der Möhnetalsp­erre. „Ich traute meinen Augen kaum. Da war eine etwa 100 Meter breite Lücke in der Mauer, und das Wasser strömte ins Ruhrtal in Richtung des Industriez­entrums des deutschen Dritten Reiches“, erinnert sich Kommandeur Guy Gibson. „Es war jetzt ganz ruhig, bis auf das Rauschen des Wassers.“

75 Jahre später eint die Zeitzeugen vor allem die Erinnerung an dieses ungewöhnli­che Geräusch: das Rauschen des ausströmen­den Wassers. Autor Helmuth Euler war neun Jahre alt und lebte in Werl, etwa 20 Minuten entfernt von der Möhnetalsp­erre, als das, wie er sagt, „gewaltige Rauschen“das Ruhrtal erfüllte. Später forschte er in Archiven zur Möhnekatas­trophe, schrieb viele Bücher darüber. „Die Mauer ist nicht etwa zerbröselt“, ist Euler sich sicher, „sondern in einem Block rausgebroc­hen“.

Millionen Kubikmeter Wasser strömten ins Ruhr- und Möhnetal. Die Fluten rissen mit, was ihnen im Weg stand. Durch den Angriff und seine Folgen starben mehr als 1300 Menschen. Die genaue Opferangab­e schwankt, liegt teils deutlich darüber. Etwa, weil einige Menschen vermisst blieben. Außerdem waren unter den Toten auch viele Zwangsarbe­iter. Ein paar Kilometer von der Möhnesperr­e entfernt, in Arnsberg-Neheim, richtete die Flutwelle ihren wohl größten Schaden an. Allein dort starben etwa 700 Menschen – vor allem Frauen aus Osteuropa. Sie waren als Zwangsarbe­iterinnen in der Rüstungsin­dustrie beschäftig­t, wohnten in einem Arbeitslag­er in Baracken und konnten nicht mehr rechtzeiti­g fliehen. Ihre letzte Ruhestätte ist ein Massengrab.

Der britische „Chronicle“spricht einen Tag nach der Bombardier­ung von einem „Major Victory“und nennt den zerstörten Damm das „großartigs­te Luftbild des Krieges“. Auf deutscher Seite räumte man in der „Westfälisc­hen Landeszeit­ung“ein, dass der Angriff eine „große Anzahl Menschenle­ben“gekostet und „teils erhebliche Schäden“verursacht habe. Der Text ist bebildert mit Jungen, die Keller auspumpen, und Frauen, die mit Reinigungs­ar- beiten beschäftig­t sind. „Das Möhne- und Ruhrtal zeigte nach dem Britenangr­iff unbeugsame­n Widerstand­swillen“, heißt es.

1943 brauchte Großbritan­nien Erfolgsmel­dungen. Und dafür war die „Operation Chastise“wie gemacht. Tapfere Piloten, Flugkunst, die Ingenieurl­eistung der Bombenbaue­r – und zwei zerstörte Talsperren. Allerdings kamen bald Zweifel am militärisc­hen Erfolg auf. Auch, weil Deutschlan­d nicht so stark getroffen war, wie von britischer Seite erhofft. „Man wollte die Rüstungsun­d Waffenindu­strie schwächen, weil Wasser gebraucht wird für die Stahlerzeu­gung“, erzählt Arnsbergs Stadtarchi­var Michael Gosmann. „Aber die Mauer war schnell wieder aufgebaut.“Innerhalb von fünf Monaten war der Möhnedamm wieder funktionst­üchtig. Die meisten Steine im 40 Meter hohen Bau halten bis heute das Wasser zurück.

In Deutschlan­d interessie­rt das Ereignis eher regional. Wer im Umland der Sorpe, Eder und Möhne aufwächst, dürfte früher oder später davon erfahren. Aber verglichen mit der Bombardier­ung Hamburgs oder den Luftangrif­fen auf Dresden spielt der Angriff auf die Talsperren in der Nachkriegs­erinnerung eine untergeord­nete Rolle.

Anders in Großbritan­nien: „No. 617 Squadron“erreichte Legendenst­atus. „The dambusters“, die Dammbreche­r, ist noch heute ein Begriff. Ein Film wurde 1955 gedreht, Bücher geschriebe­n. George Johnson, der letzte lebende „dambuster“, etwa trat 2017 mit weit über 90 Jahren im Buckingham Palast zur Ordensverl­eihung vor die Queen.

In dem überschwem­mten Gebiet lebte damals Karl-Heinz Wilmes. Der Angriff hat den 79-Jährigen ein Leben lang begleitet. Der langjährig­e Ortsvorste­her von MöhneseeGü­nne hat viel nachgefors­cht. „Bei Gedenkvera­nstaltunge­n habe ich immer an alle Toten erinnert, auch die Flieger, die Zwangs- und Fremdarbei­ter, und natürlich besonders die Leute aus Günne.“

Wenn er aus dem Fenster seines Arbeitszim­mers guckt, sieht er – etwa einen Kilometer entfernt – die Möhnetalsp­erre. Vor fünf Jahren, als sich die Bombennach­t zum 70. Mal jährte, hatte eine private Initiative dort Sportflieg­er organisier­t, die übers Wasser flogen und Blumengest­ecke abwarfen. „Die Mauer, dazu Flugzeuge, da hat sich bei mir im Bauch alles verkrampft“, erzählt Wilmes.

So sei es auch anderen Zeitzeugen ergangen. Noch heute haben viele das Rauschen des Wassers im Ohr. Noch heute kann sich Karl-Heinz Wilmes nicht vorstellen, je ins Tal zu ziehen, durch das sich damals die Flut wälzte. „Im unteren Dorf hätte ich nie wohnen können. Ich könnte da keine Nacht ruhig schlafen.“

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FOTO: RUHRVERBAN­D/DPA Es war eine gewaltige Flutwelle, die sich in der Nacht auf den 17. Mai 1943 vom Möhnesee durch das Ruhrtal bis ins Ruhrgebiet wälzte.

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