Rheinische Post Hilden

Sehr weiß und ungeheuer oben

- VON PHILIPP HOLSTEIN

Wolken sind Naturphäno­mene ohne Tempolimit. Man kann sie anschauen, aber nicht anfassen. Von jeher inspiriere­n sie Dichter und Maler, und einmal lösten sie gar eine Kunst-Revolution aus. Ein Blick in die Kulturgesc­hichte der Wolke.

DÜSSELDORF Für alle WunschAero­nauten, Luftschlos­s-Architekte­n und andere Verehrer der erhöhten Aussicht ist Bertolt Brechts „Erinnerung an die Marie A.“das schönste Gedicht überhaupt. Brecht erzählt darin von seiner Jugendlieb­e. Er erinnert sich nicht mehr so recht an sie, aber er weiß noch genau, wie der Himmel aussah, als er das Mädchen küsste: „Und über uns im schönen Sommerhimm­el / War eine Wolke, die ich lange sah / Sie war sehr weiß und ungeheuer oben / Und als ich aufsah, war sie nimmer da“.

Um 1800 entdeckten

Maler wie William Turner im Himmel das

Labor der Moderne

Überhaupt sollte man das unbedingt mal wieder tun, küssen natürlich, aber eben auch Wolken gucken. Das ist eine gute Jahreszeit, um die Wolken zu beobachten, und man wird nie enttäuscht von den „Schaustell­ern des Himmels“, wie der österreich­ische Schriftste­ller und Hans-guck-in-die-Luft Franzobel sie nennt. Dieses Schwebende, Unbestimmt­e. Das Dazwischen, für das die Wolken stehen. Der dauernde Transit, die ständige Drift. Und dann diese Namen, die man nur aneinander­zureihen braucht, und schon hat man ein Gedicht: Cirrus, Cirrocumul­us, Cirrostrat­us, Cumulonimb­us. Welches göttliche Wesen auch immer die Wolken erfunden hat, es schuf die schönstmög­liche Art, Atmosphäre sichtbar zu machen. O aerosole mio!

Die Menschen waren immer schon fasziniert von den Wolken, sie waren ihnen stets mehr als die Ansammlung feinster Wassertröp­fchen und Eiskristal­le. In Aristophan­es’ Komödie „Die Wolken“sind sie Akteure, die sogar reden können. Vor dem 19. Jahrhunder­t galten sie als Erscheinun­gsform des Göttlichen. Im Buch Mose nähert sich Gott den Menschen in Gestalt einer Wolkensäul­e. Und in der Malerei waren zunächst die niederländ­ischen Meister die größten WolkenFans. Ihre Landschaft­sdarstellu­ngen bestanden mitunter zu zwei Dritteln aus einem Wolkengebi­rge, das von der unsichtbar­en Anwesenhei­t des Göttlichen kündete.

Die einzelne Wolke hingegen wurde erst um 1820 bildwürdig, wie Florian Illies in seinem neuen Buch „Gerade war der Himmel noch blau“nachweist. Das sei die Zeit gewesen, als alle Wahrheiten sich in Luft auflösten, schreibt er. Nichts sei mehr sicher gewesen, alles im Fluss. Und so kam es, dass Europas größte Maler wie besessen Wolken jagten. 1828 hielten sich William Turner, John Constable, Jean-Baptiste Camille Corot, Caspar David Friedrich und Carl Blechen gleichzeit­ig in Italien auf, ohne von der Anwesenhei­t des je anderen zu wissen. Was suchten sie in diesem Wolkenkuck­ucksheim? Eine neue Wirklichke­itserfahru­ng. Eine offenere Malweise für Licht, Atmosphäre und das Flirrende. Eine andere Bildsprach­e der Farben. Sie wollten Geschwindi­gkeit abbilden und das Vergehen. Die Wolkenstud­ie in Öl war das geeignete Medium, sie war der angemessen­e Ausdruck der Zeit. Illies schreibt: Die Wolke hat die Kunstgesch­ichte beschleuni­gt.

Dass plötzlich alle Welt die Schönheit des Flüchtigen zu greifen versuchte, lag auch an einem englischen Wissenscha­ftler. 1803 klassi- fizierte Luke Howard in London die Wolken: Federwolke, Haufenwolk­e, Schichtwol­ke, Regenwolke. Goethe war darüber so aus dem Häuschen, dass er Howards Schrift ins Deutsche übersetzte und Caspar David Friedrich bat, den Text zu illustrier­en. Der lehnte aber ab – was ziemlich schade ist: Was wäre das für ein Buch geworden! Goethe schaute nun jedenfalls genauer hin, er wurde gewisserma­ßen zum Wolkenkrat­zer, und er kam dem Phänomen sprachlich sehr nahe: „Wie Streife steigt, sich ballt, zerflatter­t, fällt.“

Die Wolken wurden weithin zum Symbol. Kierkegaar­d betrachtet­e sie als Sinnbild für die Gedanken und für die inneren Zustände des Menschen. Sie eigneten sich als Metapher für eine Welt, die sich in jedem Augenblick neu erschafft. Das Skizzenhaf­te, das ihnen per se innewohnt, mutete zeitgenöss­isch an. Wolken sind ja immer auf dem Sprung; buchstäbli­ch in Windeseile verändern sie sich. Und die Faszina- tion hält bis heute an. Die Wolke sei die auffälligs­te Vorläuferi­n der modernen nichtgegen­ständliche­n Kunst, hat der Kunstpsych­ologe Rudolf Arnheim gesagt. Der Himmel ist demnach das Labor der Moderne, und wie gültig noch immer ist, was in den verflüssig­ten und duftigen Nebel- und Dunst-Landschaft­en eines William Turner seinen frühen Ausdruck fand, erkennt man an den wunderbare­n Wolkenbild­ern von Gerhard Richter.

Man muss aber gar nichts wissen über die Kulturgesc­hichte der Wolken. Man kann sie einfach bloß anschauen, dazu sind sie ja da, nur zum Angucken, denn man kann sie nicht berühren, sie sind nicht zu fassen und nicht zu begreifen. Die Wolke ist die extremste Erscheinun­gsform des Nichts. „Sie war sehr weiß und kam von oben her“, schrieb Bertolt Brecht. „Doch jene Wolke blühte nur Minuten / Und als ich aufsah, schwand sie schon im Wind“.

 ?? FOTO: AKG-IMAGES ?? Die „Wolkenstud­ie“(Öl auf Papier) von John Constable entstand um 1820, als viele Künstler in Europa nach neuen Ausdrucksf­ormen suchten.
FOTO: AKG-IMAGES Die „Wolkenstud­ie“(Öl auf Papier) von John Constable entstand um 1820, als viele Künstler in Europa nach neuen Ausdrucksf­ormen suchten.

Newspapers in German

Newspapers from Germany