Rheinische Post Hilden

Unbekannte Texte von Anne Frank entziffert

- VON ANNETTE BIRSCHEL

Auf verklebten Seiten aus dem Tagebuch fanden sich zotige Witze und Texte über Sexualität.

AMSTERDAM (dpa) Mehr als 70 Jahre lang waren zwei Seiten des weltberühm­ten Tagebuches von Anne Frank dicht verklebt. Die Texte darauf waren verborgen hinter dickem braunem Packpapier. Doch nun sind die bislang unlesbaren Zeilen des jüdischen Mädchens veröffentl­icht worden. Die Amsterdame­r Anne Frank Stiftung präsentier­te am Dienstag die Texte, die mit digitaler Fototechni­k lesbar gemacht wurden. Die damals 13-jährige Anne hatte auf zwei Seiten am 28. September 1942 anzügliche Witze und eine Passage über Sexualität notiert.

Auf Seite 78 ihres ersten Tagebuchs habe sie „geschmiert“, schrieb Anne. Daher nutze sie den Platz für „derbe Witze“. Ein Beispiel: „Wissen Sie, wozu die deutschen Wehrmachts­mädchen in den Niederland­en sind? Als Matratzen für die Soldaten.“Solche Zoten waren „Kriegsklas­siker“, sagt der Wissen- schaftler des Huygens-Institut für niederländ­ische Geschichte, Peter de Bruin. Anne hatte sie womöglich im Radio gehört oder auch von ihrem Vater Otto. Aber sie schrieb auch über Sexualität und Prostituti­on. Das liest sich wie eine fast wörtliche Wiedergabe ihrer eigenen Sexualaufk­lärung.

„Die Texte sagen uns nicht wirklich etwas Neues über Anne Frank“, sagt der Direktor der Anne Frank Stiftung, Ronald Leopold. „Sie ist ein 13-jähriges Mädchen in der Pubertät.“Über Sexualität hat sie auch an anderer Stelle geschriebe­n. Aber ihr Stil verrät doch viel über die beginnende Schriftste­llerin. Denn das wollte Anne werden, schrieb sie später in ihrem Tagebuch.

Sie wollte einen Roman schreiben, mit dem Titel „Das Hinterhaus“. Das Tagebuch sollte die Basis sein. Daher redigierte sie später alle Texte und schrieb große Passagen neu. Die Seiten 78 und 79 klebte sie vermutlich selbst zu, weil sie sich schämte. „Wahrschein­lich hatte sie Angst, dass jemand das lesen könnte“, vermutet Direktor Leopold.

Diese Textpassag­en verdeutlic­hen, dass Anne auch ein ganz normales Mädchen war. Zugleich beleuchten sie den Kontrast zu der großen Bedrohung im Hinterhaus an der Prinsengra­cht und machen den unmenschli­chen Terror bis heute fühlbar. Im Hinterhaus lebte die in Frankfurt geborene Anne mit ihrer Familie im Versteck vor den deutschen Nationalso­zialisten.

Im August 1944 wurde die Familie verraten und deportiert. Anne starb im Alter von 15 Jahren 1945 im Konzentrat­ionslager Bergen-Belsen. Nur Vater Otto Frank überlebte. Helfer hatten Annes Tagebücher gerettet und sie Otto nach dem Krieg übergeben. 1947 veröffentl­ichte er Annes Texte erstmals.

Die Anne-Frank-Stiftung habe lange gezweifelt, ob sie die überklebte­n Passagen überhaupt veröffentl­ichen sollte. „Anne Frank ist weltweit zu einer Ikone geworden“, sagte Direktor Leopold. „Ihr Tagebuch gehört zum Weltkultur­erbe der Unesco. Wir fanden, dass alle Texte dokumentie­rt werden mussten.“

In die neue für das kommende Jahr geplante wissenscha­ftlicheAus­gabe der Tagebücher sollen die Texte mit aufgenomme­n werden. Doch im alten rotkariert­en Büchlein bleiben die Seiten 78 und 79 verklebt mit dem dicken braunen Packpapier – genauso wie Anne es selbst wollte.

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FOTO: DPA Anne Frank (1929-1945)

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