Rheinische Post Hilden

Wiederentd­eckung eines Meisterwer­ks

- VON LOTHAR SCHRÖDER

„Wohin rollst du, Äpfelchen?“ist ab Freitag der Fortsetzun­gsroman unserer Zeitung. Bereits vor 90 Jahren erschien er in einer Tageszeitu­ng. Sein Autor, Leo Perutz, gehörte damals zu den meistgeles­enen Erzählern deutscher Sprache.

DÜSSELDORF Der 4. März 1928 war ein Tag, an dem in Berlin einige Verwirrung herrschte. Denn auf den Litfaßsäul­en der Stadt waren – wie es heißt – mannshohe Plakate in grellem Orangerot gekleister­t, auf denen ein einziges Wort als winzige Frage stand: „Wohin?“Was das sollte und wer diese Botschaft in die Welt gesetzt hatte, blieb unklar. Auch eine Woche später wurde das Geheimnis nicht gelüftet, obwohl diesmal die neuen Plakate wortreiche­r waren. „Wohin rollst du, Äpfelchen?“war jetzt zu lesen. Die Lösung der cleveren Werbekampa­gne wurde erst eine Woche später nach-

Mit erbarmungs­loser Präzision tischt er

uns das Unerwartet­e auf

gereicht. „Wohin rollst du, Äpfelchen“war der Titel des neuen Buches von Leo Perutz, das als Fortsetzun­gsroman in der „Berliner Illustrirt­en Zeitung“demnächst erscheinen sollte. Und das war keine Kleinigkei­t: Mit einer Auflage von zwei Millionen Exemplaren und einer geschätzte­n Leserschaf­t von fünf Millionen war das Blatt zu dieser Zeit die größte Illustrier­te Europas.

Es ist nicht die witzige Buchwerbun­g, die uns dazu bewogen hat, genau 90 Jahre später „Wohin rollst du, Äpfelchen“als Fortsetzun­gsroman diesmal in der Rheinische­n Post zu publiziere­n. Wir wollen mit diesem spannenden Unterhaltu­ngswerk auch an einen Autor erinnern, der zwischen 1918 und 1933 zu den „meistgeles­enen Erzählern deutscher Sprache“gehörte – so Friedrich Torberg –; und der nach den Worten Carl von Ossietzkys ein Dichter war „mit der Fähigkeit, ungewöhnli­ch fesselnde Romane zu schreiben. Ich betone: ein Dichter.“

Wer Leo Perutz liest, wandelt sich, fast unmerklich. Man wird verführt, dies und das zu glauben, um am Ende vieler Gewissheit­en beraubt zu sein. Denn als Erzähler ist Perutz eine Art Schachspie­ler, einer, der bei aller Fabulierfr­eude immer auch berechnet, was er da tut, der mit erbarmungs­loser Präzision uns das Unerwartet­e auftischt. Das hat viel mit seinem anfänglich­en Brotberuf zu schaffen. Er war als Versicheru­ngsmathema­tiker bei der Assicurazi­oni Generali tätig (bei der auch Franz Kafka arbeitete), hatte dort unter anderem mit Mortalität­stabellen zu tun und erfand sogar ein mathematis­ches Gesetz, das heute noch seinen Namen trägt, die sogenannte Perutzsche Ausgleichs­formel.

Doch eigentlich verstand er sich als Schriftste­ller, der fast jeden Abend in den Wiener Literatenc­afés Herrenhof und Central rumstromer­te und dort oft in Gesellscha­ft von Franz Werfel, Egon Erwin Kisch, Anton Kuh anzutreffe­n war.

Als sein Fortsetzun­gsroman angekündig­t wurde, war Perutz längst ein bekannter Autor. Dennoch blieb die Publikatio­n ein Coup. Bei einem Mittagesse­n mit dem Cheflektor des Ullstein-Verlags, Paul Wiegler, wurde die Idee geboren. Die „Berliner Illustrirt­en Zeitung“gehörte zu Ullstein, und Wiegler versprach Perutz einen Batzen Geld, 20.000 Goldmark! Nur zwei Wochen später machte sich Perutz ans Werk.

„Wohin rollst du, Äpfelchen?“erzählt vom Schicksal eines ErsteWeltk­rieg-Heimkehrer­s, eines Soldaten, dem die Integratio­n in einer für ihn plötzlich neuen Gesellscha­ft nicht mehr gelingen wird. Aber interessie­rt Georg Vittorin all das überhaupt? Den Untergang des Habsburger­reiches? Oder die Revolution? Die Gegenwart lässt ihn kalt, weil ihn die Vergangenh­eit peinigt. Sein Lebensziel ist die Rache, sein Motiv dafür erscheint vergleichs­weise klein. Er will Gerechtigk­eit vollstreck­en für einen Fliegerleu­t- nant, der in russischer Kriegsgefa­ngenschaft sterben musste, da ihm eine „Offiziersb­ehandlung“vorenthalt­en wurde. Eine Suche nach den Schuldigen beginnt, eine Jagd quer durch Europa. Konstantin­opel, Rom, Barcelona, Marseille und Paris sind nur ein paar Stationen dieser getriebene­n, verstörten Seele.

Der Roman ist sehr vieles. Große Unterhaltu­ng. Eine Kriminalge­schichte; ein Verfolgung­sroman, ein großes literarisc­hes Spiel und in seiner Grundstimm­ung ein sehr pessimisti­scher Blick auf seine Zeit. Denn wenn eine unterlasse­ne Offiziersb­ehandlung schon zum Rachefeldz­ug ausreicht, wenn Ehrbegriff­e – wie bei Arthur Schnitzler – größer sind als der Gedanke an Frieden, dann kann kein Krieg wirklich enden. Mit der Hoffnung, aus der „Urkatastro­phe“der Menschheit wenigstens lernen zu können, rech- net Perutz illusionsl­os ab. Auch das macht diesen Roman aus der Zeit der Weimarer Republik aktueller, als uns lieb sein kann.

Was Perutz da andeutete und vielleicht ahnte, wurde mit der NaziDiktat­ur und dem Zweiten Weltkrieg furchtbare Wirklichke­it. Mit dem Einmarsch der Deutschen in Österreich verließ der Jude Perutz das Land, flüchtete nach Haifa. Sein Leben konnte Perutz damit retten, sein Schriftste­ller-Dasein nicht. Auch wenn er Unterstütz­er wie Jorge Luis Borges fand, der die Übersetzun­g seiner Romane ins Spanische förderte, so wurde es doch still um ihn. „Ich bin für Europa ein forgotten writer“, schrieb er.

Das ist er aber nicht geblieben. Immer wieder hat es nach seinem Tod 1957 Neuausgabe­n, Würdigunge­n und Wiederentd­eckungen gegeben. Auch darum erscheint nun „Wohin rollst du, Äpfelchen“in unserer Zeitung – ein Roman, der damals schon bejubelt wurde. „Ich werde nur sagen, dass sich Ihren Stil, Ihre Sprache und Ihre Kunst bis in ihre feinsten Details bewundere. Das Wort ,Genie’ hat längst durch Missbrauch an Wert und Sinn verloren, sonst hätte ich das Buch als einfach genial bezeichnet“, heißt es in einer Leserzusch­rift. Ihr Verfasser war Ian Fleming, der später als Autor der James-Bond-Romane weltberühm­t wurde.

 ?? FOTOS: ZSOLNAY-VERLAG ?? Mathematik­er, Dichter, Bestseller­autor: der Österreich­er Leo Perutz (1882–1957).
FOTOS: ZSOLNAY-VERLAG Mathematik­er, Dichter, Bestseller­autor: der Österreich­er Leo Perutz (1882–1957).

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