Rheinische Post Hilden

Mehr Lust auf Zukunft, bitte!

- VON MARTIN BEWERUNGE

Die Zeit der großen Visionen in der Politik scheint vorbei. Groß daran wird nur das Risiko empfunden, damit zu scheitern. Das ist ein Fehler. Wer sich keine großen Ziele steckt, wird auch die kleinen verfehlen.

Der erste Kanzler der Bundesrepu­blik musste sich keine Agenda ausdenken. Die Umstände diktierten sie ihm. Das Land lag in Trümmern. Die Vision, dass ein geächtetes Volk wie die Deutschen einmal wieder einen Platz als geachteter Partner in Europa finden würde – sie schien unerreichb­ar. Das große Verdienst von Konrad Adenauer ist, dass er sie dennoch hatte – und unerschütt­erlich an ihr festhielt. Ohne diese Zuversicht, die der „Alte“zu vermitteln wusste, wäre der Neubeginn anders verlaufen.

Ludwig Erhard war später der Mann, der die Idee der sozialen Marktwirts­chaft weiterentw­ickelte und damit Westdeutsc­hland ein einzigarti­ges Erfolgsmod­ell bescherte. Mit Willy Brandt erschien ein Charismati­ker, der den Schneid für eine neue Ostpolitik hatte. Dann kam Helmut Schmidt, der „leitende Angestellt­e der Republik“, und der Schwung erlahmte. Wer Visionen habe, möge zum Arzt gehen, beschied der nüchterne Hanseat politische Konkurrent­en.

Wer sich davon nicht beeindruck­en ließ, waren die Grünen. Für Helmut Kohls „geistig-moralische Wende“indes erwärmte sich dagegen allenfalls eine Handvoll ergebener Parteifreu­nde. Die größte Zeitenwend­e aller bisherigen Kanzlersch­aften fiel ihm sieben Jahre später einfach in den Schoß.

Das vorerst letzte Mal, dass eine Bundesregi­erung eine Agenda entwarf und umsetzte, von der die Leute heute noch sprechen, war die „Agenda 2010“der rot-grünen Bundesregi­erung. Das ist 15 Jahre her. Seither konnten die Wähler nicht nur den Eindruck gewinnen, dass alle Anstrengun­gen in Berlin dahin gehen, die Gegenwart zu verwalten, anstatt Zukunft zu gestalten – obendrein tritt als vorläufige­r Tiefpunkt der Entwicklun­g bei den etablierte­n Parteien neuerdings unverhohle­ne Unlust am Regieren zutage, während die Newco- mer am liebsten die Zeit zurückdreh­en würden.

Man täte dem Vertrag der jüngsten großen Koalition Unrecht, spräche man ihm jegliche Ambition ab. Das 180 Seiten starke Werk beeindruck­t durch eine Fülle an Details. Aber dass aus diesem Klein-Klein „ein neuer Aufbruch für Europa, eine neue Dynamik für Deutschlan­d und ein neuer Zusammenha­lt für unser Land“erwachsen, wie die Überschrif­t verspricht, glauben die meisten seiner Verfasser wohl selber nicht. Es sind eben jene Details und der programmie­rte Streit darüber, wie sie verwirklic­ht werden sollen, welche die Verheißung des Neuen bald schon alt aussehen lassen dürften.

„Wir leben in einer Zeit – das merken wir an der Groko –, die recht visionslos ist“, beschreibt Stephan Grünewald, Psychologe und Mitbegründ­er des „Rheingold“-Instituts für Trendforsc­hung, die augenblick­liche Atmosphäre im Land. „Wir befinden uns nicht in einer Aufbruchst­immung, sondern sind eher in einer permanente­n Gegenwart verhaftet.“Die Folge: Retro- und Vintagetre­nds boomen. „Das Aufbruchsv­akuum wird kompensier­t, indem wir Aufbruchss­timmungen der Vergangenh­eit aufleben lassen“, so Grünewald.

Dabei steht die nächste Zeitenwend­e nicht nur bevor. Sie hat bereits angefangen. In den kommenden zwei Jahrzehnte­n werden künstliche Intelligen­z und Robotik die Arbeitswel­t und das soziale Leben in einem Ausmaß und Tempo umgepflügt haben, wie es die Welt noch nicht gesehen hat. Schon jetzt werden die Regeln, die das tägliche Leben bestimmen, weniger in den Hauptstädt­en ersonnen. Sie kommen von Giganten wie Google, Apple, Amazon und Facebook.

Fragt man Volksvertr­eter nach den Aufgaben, die vor uns liegen, ertönt allzu oft die Antwort, man müsse den Menschen die Angst vor dem digitalen Wandel nehmen. Aber nicht der Wandel erzeugt Unbehagen, sondern die Art und Weise, wie ihn die Politik in ihren Zukunftsen­twürfen und Regierungs­programmen ignoriert. Das Konkretest­e, was sich im Koalitions­vertrag in Bezug auf die Bemühungen findet, den digitalen Anschluss nicht zu verlieren, ist eine App, mit der Bürger „einfach und unbürokrat­isch“Funklöcher an die Behörden melden können.

Dass die eiserne Regel der neuen Zeit lautet: Alles, was automatisi­ert werden kann, wird automatisi­ert, haben die meisten inzwischen verstanden. Doch wie haben wir uns eine nicht mehr ferne Welt vorzustell­en, in der Maschinen den Job von Millionen Arbeitnehm­ern machen? Was bedeutet das für unser Bildungssy­stem? Was für unsere Sozialsyst­eme? Wird es, was viele Experten erwarten, ein bedingungs­loses Grundeinko­mmen geben, finanziert durch eine Roboterste­uer? Gerade der letzte Punkt verdiente eine breite Debatte in diesem Land. Sie wird von denen, die es könnten, nicht angestoßen. Das ist nicht nur unverständ­lich. Das ist verantwort­ungslos.

Visionen sind Spielwiese­n für das, was sein könnte, Utopien Entwürfe einer Gesellscha­ftsordnung, die sich vom Hier und Jetzt lösen. Was sie definitiv nicht sind: Risikofakt­oren, die turbulente Zeiten noch verworrene­r machen, oder Szenarien, die allenfalls ein hohes Potenzial zu scheitern in sich bergen. Die Zukunft, sie ist voller fantastisc­her Chancen – für den, der vorbereite­t ist. Wer aber keine großen Ziele hat, wird auch die kleinen verfehlen.

„Emmanuel Macron entwarf eine Vision von Europa. Wir Deutschen antwortete­n mit einem Koalitions­vertrag“, mokierte sich unlängst der deutsche Botschafte­r in Paris, Nikolaus MeyerLandr­ut. C’est ça !

Es wird Zeit, Zukunft nicht länger als Zumutung zu definieren, sondern die Lust an ihr wieder zu wecken. Das – und nicht die bloße Beschäftig­ung mit den Altlasten der Vergangenh­eit – ist Aufgabe von Politik. Denn Utopie ist alles Andere als das, was unter der wörtlichen Übersetzun­g des griechisch­en Begriffs missversta­nden werden könnte: kein Ort, nirgends.

Nicht der digitale Wandel erzeugt Unbehagen, sondern die

Art, wie er von der Politik ignoriert wird

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