Mehr Lust auf Zukunft, bitte!
Die Zeit der großen Visionen in der Politik scheint vorbei. Groß daran wird nur das Risiko empfunden, damit zu scheitern. Das ist ein Fehler. Wer sich keine großen Ziele steckt, wird auch die kleinen verfehlen.
Der erste Kanzler der Bundesrepublik musste sich keine Agenda ausdenken. Die Umstände diktierten sie ihm. Das Land lag in Trümmern. Die Vision, dass ein geächtetes Volk wie die Deutschen einmal wieder einen Platz als geachteter Partner in Europa finden würde – sie schien unerreichbar. Das große Verdienst von Konrad Adenauer ist, dass er sie dennoch hatte – und unerschütterlich an ihr festhielt. Ohne diese Zuversicht, die der „Alte“zu vermitteln wusste, wäre der Neubeginn anders verlaufen.
Ludwig Erhard war später der Mann, der die Idee der sozialen Marktwirtschaft weiterentwickelte und damit Westdeutschland ein einzigartiges Erfolgsmodell bescherte. Mit Willy Brandt erschien ein Charismatiker, der den Schneid für eine neue Ostpolitik hatte. Dann kam Helmut Schmidt, der „leitende Angestellte der Republik“, und der Schwung erlahmte. Wer Visionen habe, möge zum Arzt gehen, beschied der nüchterne Hanseat politische Konkurrenten.
Wer sich davon nicht beeindrucken ließ, waren die Grünen. Für Helmut Kohls „geistig-moralische Wende“indes erwärmte sich dagegen allenfalls eine Handvoll ergebener Parteifreunde. Die größte Zeitenwende aller bisherigen Kanzlerschaften fiel ihm sieben Jahre später einfach in den Schoß.
Das vorerst letzte Mal, dass eine Bundesregierung eine Agenda entwarf und umsetzte, von der die Leute heute noch sprechen, war die „Agenda 2010“der rot-grünen Bundesregierung. Das ist 15 Jahre her. Seither konnten die Wähler nicht nur den Eindruck gewinnen, dass alle Anstrengungen in Berlin dahin gehen, die Gegenwart zu verwalten, anstatt Zukunft zu gestalten – obendrein tritt als vorläufiger Tiefpunkt der Entwicklung bei den etablierten Parteien neuerdings unverhohlene Unlust am Regieren zutage, während die Newco- mer am liebsten die Zeit zurückdrehen würden.
Man täte dem Vertrag der jüngsten großen Koalition Unrecht, spräche man ihm jegliche Ambition ab. Das 180 Seiten starke Werk beeindruckt durch eine Fülle an Details. Aber dass aus diesem Klein-Klein „ein neuer Aufbruch für Europa, eine neue Dynamik für Deutschland und ein neuer Zusammenhalt für unser Land“erwachsen, wie die Überschrift verspricht, glauben die meisten seiner Verfasser wohl selber nicht. Es sind eben jene Details und der programmierte Streit darüber, wie sie verwirklicht werden sollen, welche die Verheißung des Neuen bald schon alt aussehen lassen dürften.
„Wir leben in einer Zeit – das merken wir an der Groko –, die recht visionslos ist“, beschreibt Stephan Grünewald, Psychologe und Mitbegründer des „Rheingold“-Instituts für Trendforschung, die augenblickliche Atmosphäre im Land. „Wir befinden uns nicht in einer Aufbruchstimmung, sondern sind eher in einer permanenten Gegenwart verhaftet.“Die Folge: Retro- und Vintagetrends boomen. „Das Aufbruchsvakuum wird kompensiert, indem wir Aufbruchsstimmungen der Vergangenheit aufleben lassen“, so Grünewald.
Dabei steht die nächste Zeitenwende nicht nur bevor. Sie hat bereits angefangen. In den kommenden zwei Jahrzehnten werden künstliche Intelligenz und Robotik die Arbeitswelt und das soziale Leben in einem Ausmaß und Tempo umgepflügt haben, wie es die Welt noch nicht gesehen hat. Schon jetzt werden die Regeln, die das tägliche Leben bestimmen, weniger in den Hauptstädten ersonnen. Sie kommen von Giganten wie Google, Apple, Amazon und Facebook.
Fragt man Volksvertreter nach den Aufgaben, die vor uns liegen, ertönt allzu oft die Antwort, man müsse den Menschen die Angst vor dem digitalen Wandel nehmen. Aber nicht der Wandel erzeugt Unbehagen, sondern die Art und Weise, wie ihn die Politik in ihren Zukunftsentwürfen und Regierungsprogrammen ignoriert. Das Konkreteste, was sich im Koalitionsvertrag in Bezug auf die Bemühungen findet, den digitalen Anschluss nicht zu verlieren, ist eine App, mit der Bürger „einfach und unbürokratisch“Funklöcher an die Behörden melden können.
Dass die eiserne Regel der neuen Zeit lautet: Alles, was automatisiert werden kann, wird automatisiert, haben die meisten inzwischen verstanden. Doch wie haben wir uns eine nicht mehr ferne Welt vorzustellen, in der Maschinen den Job von Millionen Arbeitnehmern machen? Was bedeutet das für unser Bildungssystem? Was für unsere Sozialsysteme? Wird es, was viele Experten erwarten, ein bedingungsloses Grundeinkommen geben, finanziert durch eine Robotersteuer? Gerade der letzte Punkt verdiente eine breite Debatte in diesem Land. Sie wird von denen, die es könnten, nicht angestoßen. Das ist nicht nur unverständlich. Das ist verantwortungslos.
Visionen sind Spielwiesen für das, was sein könnte, Utopien Entwürfe einer Gesellschaftsordnung, die sich vom Hier und Jetzt lösen. Was sie definitiv nicht sind: Risikofaktoren, die turbulente Zeiten noch verworrener machen, oder Szenarien, die allenfalls ein hohes Potenzial zu scheitern in sich bergen. Die Zukunft, sie ist voller fantastischer Chancen – für den, der vorbereitet ist. Wer aber keine großen Ziele hat, wird auch die kleinen verfehlen.
„Emmanuel Macron entwarf eine Vision von Europa. Wir Deutschen antworteten mit einem Koalitionsvertrag“, mokierte sich unlängst der deutsche Botschafter in Paris, Nikolaus MeyerLandrut. C’est ça !
Es wird Zeit, Zukunft nicht länger als Zumutung zu definieren, sondern die Lust an ihr wieder zu wecken. Das – und nicht die bloße Beschäftigung mit den Altlasten der Vergangenheit – ist Aufgabe von Politik. Denn Utopie ist alles Andere als das, was unter der wörtlichen Übersetzung des griechischen Begriffs missverstanden werden könnte: kein Ort, nirgends.
Nicht der digitale Wandel erzeugt Unbehagen, sondern die
Art, wie er von der Politik ignoriert wird