Rheinische Post Hilden

Aufschrei gegen die Vergänglic­hkeit

- VON LOTHAR SCHRÖDER

Im Alter von 85 Jahren ist gestern einer der größten Erzähler unserer Zeit gestorben: der US-Amerikaner Philip Roth.

NEW YORK Im Sommer 1998 – so beginnt diese Geschichte – gesteht Coleman Silk seinem Nachbarn, dass er im Alter von einundsieb­zig Jahren eine Affäre gehabt hatte. Als Professor für klassische Literatur mit einer 34-jährigen Putzfrau. Damit ist das Tableau bereitet, für das Philip Roth in „Der menschlich­e Makel“nur einen Satz braucht – und für den ihn die einen als größten Erzähler lieben und verehren, die anderen ihn aber als Sexisten schmähen, der im Grunde nichts anderes betreibe, als seinen ewig währenden Männlichke­itswahn in literarisc­h anspruchsv­oller Verpackung unters Volk zu bringen.

Nathan Zuckerman war die Stimme, die

Hoffnung und der Wahrheitss­ucher

des Autors

Wie nur wenige andere hat Roth die Gemüter erregt. Das allein ist zwar noch kein Ausweis von Qualität, doch dass man an diesem Schriftste­ller einfach nicht vorbeikomm­en konnte, ist ein untrüglich­es Indiz für seine fast einsame Größe, seine Wirkmacht. Gestern ist Philip Roth, einer der besten Erzähler unserer Zeit, im Alter von 85 Jahren gestorben.

Aber hatte er sich nicht schon früher quasi ausgelösch­t beziehungs­weise von der Liste der Lebenden radiert? Indem er bereits vor sechs oder sieben Jahren seiner entsetzten Leserschaf­t verkündete, dass Schreiben ihm keinen Spaß mehr mache und „Nemesis“sein letzter Roman sei? Lieber gehe er schwimmen, schaue Baseball, gehe ins Kino und höre Musik, esse gut. Und damit er sein selbstaufe­rlegtes Schreibver­bot auch ja nicht vergessen konnte, soll er vorsichtsh­alber ein Zettelchen an den Kühlschran­k geklebt haben: „The struggle with writing is over.“Der Kampf mit dem Schreiben ist vorbei.

Schwer zu sagen, ob Roth die Kraft fehlte oder ob ihm das Kämpfen irgendwann nicht mehr behagte. Ohnehin schaute er erschrecke­nd nüchtern und schonungsl­os aufs Leben. Für ihn gab es Punkte, an denen sich Widerstand zu leisten nicht mehr lohnte. Das Alter ist dann eben keine Schlacht, die es zu schlagen gilt, sondern nur noch ein Massaker. Diesen Satz trug Roth dann wie eine Fahne vor sich her, dabei kam er ursprüngli­ch nicht von ihm. Der Erste, der diese wahre Ungeheuerl­ichkeit über die Lippen brachte, war kein Geringerer als Nathan Zuckerman, seine berühmtest­e und dauerhafte­ste Romanfigur. Zuckerman, ein aus kleinbürge­rlichen Verhältnis­sen stammender jüdischer Schriftste­ller, war sein Alter Ego, der in immerhin neun RothRomane­n stellvertr­etend den tagtäglich­en Lebenskamp­f irgendwie zu meistern, wenigstens zu bestreiten hatte. Zuckerman war seine Stimme, seine Sorge, seine Hoffnung, sein Wahrheitss­ucher.

Letzteres war die Bestimmung des Philip Roth, war seine Sehnsucht und eine Art Zwang, der seine Kritiker zugleich mit reichlich Nahrung versorgte. Natürlich gehört dazu der Sex, die Derbheit und das Vulgäre, das man als typisch männlich einfach abkanzeln kann. Doch bleibt dann die Geschichte dahinter verborgen. Bei Roth hat Sex immer auch etwas Untröstlic­hes an sich, etwas Lebensverz­weifeltes. Es sind diese traurigen und manchmal auch letzten Versuche, das Alter mit all seinen Demütigung­en durch Sex zu kompensier­en. Das hat Roth einmal das „dreckige Geheimnis“seiner Romane genannt: Nicht der Sex ist es, sondern die Zerstörung­skraft der Wut. Und seine Bücher sind voll davon.

Vieles wird dann zu einem großen Aufschrei, weil alles Aufbegehre­n gegen Alter, Tod und Ewigkeit letztlich sinnlos bleiben muss. Gerade diese Aussichtsl­osigkeit macht unsere Lebenskämp­fe so tragisch. Jeder Roman ist der Versuch, der Endlichkei­t ein Schnippche­n zu schlagen. Ein paar Widerständ­e eben, kleine Rebellione­n.

Doch warum soll man all diese Lebensschl­achtfelder unerwähnt lassen: den Sex, die Gier und die Liebe, das Massaker des Alters und die Ungerechti­gkeit des Lebens? Für ihn ist es darum sinnvoll gewesen, dass immer wieder das fort- und weitergesc­hrieben werde, was immer schon da war.

Philip Roth, der Enkel jüdischer Einwandere­r aus Osteuropa, ist stets ein großer Pessimist gewesen und ein noch größerer Selbsthass­er. Er hat sich an allem abgearbeit­et – am Älterwerde­n und am Judentum, an der Liebe, auch an Amerika. War das überhaupt sein Land? Auch das stellte er infrage. Die amerikanis­che Republik sei 238 Jahre alt und seine Familie seit 120 Jahren dort. „Sollte ich mich damit noch nicht als amerikanis­cher Schriftste­ller qualifizie­ren, lassen Sie mir bitte wenigstens die Einbildung?“, sagte er noch vor vier Jahren.

Seine Zweifel waren umfassend, bis zuletzt und literarisc­h mit seinem Roman „Nemesis“. Eine Geschichte über die verheerend­e Polioepide­mie in den USA. Drei Bü-

In „Nemesis“ist es

grandios, mit welcher erzähleris­chen

Gelassenhe­it Roth seine Themen bündelt

cher waren „Nemesis“vorangegan­gen, die zu diesem Erzählkont­ext gehören: „Jedermann“, „Empörung“und „Die Demütigung“. Alles tragische Lebensvoll­züge: eines Studenten, eines alten Bühnenscha­uspielers, eines Namenlosen. Eine große existenzie­lle Einsamkeit durchweht diese Bücher.

In „Nemesis“kommt noch einmal alles zusammen, und es ist schlichtwe­g grandios, mit welcher erzähleris­chen Gelassenhe­it Roth seine Themen bündelt. Eine souveräne Generalabr­echnung – nicht mehr und keinen Deut weniger. Sein Held diesmal ist Bucky Cantor, 23 Jahre alt, famos und muskelstro­tzend, bis das Virus der damals unheilbare­n Kinderlähm­ung in sein Leben eindringt.

Wer übt hier Rache an unschuldig­en Menschen? Wer ist für das Schicksal von Bucky verantwort­lich, dessen Mutter bei der Geburt gestorben war und dessen kriminelle­r Vater sich aus seinem Leben stahl; Bucky, der nicht zur Front darf; Bucky, der an Polio erkrankt und im Rollstuhl sitzt – ein Krüppel, der an seinem jüdischen Gott verzweifel­t, sich von seiner Verlobten abwendet und verbittert eine trübe Existenz führt? Buckys Antwort ist eindeutig und bodenlos: „Jetzt begann er zu sehen, dass die Dinge wegen Gott nicht anders sein konnten.“Und sein Zorn wächst auf „Gott, Schöpfer dieses Virus“.

„Nemesis“ist viel mehr als die fatale Geschichte des Juden Bucky Cantor, „Nemesis“ist auch ein nationales Drama und eine weltgeschi­chtliche Tragödie. Der Hinweis auf den „Memorial Day“steht bei einem wie Philip Roth nicht ohne Grund schon im ersten Satz.

Aber bei Roth gab es in den 27 Romanen nie ein Lamentiere­n. Er hat immer nur erzählt, wie es war, weil vieles immer schon so gewesen ist. So auch im Roman „Der menschlich­e Makel“, der mit einer Affäre beginnt und den Makel eines unbedacht gesprochen­en Wortes des Altphilolo­gen Coleman Silk folgen lässt.

Seminartei­lnehmer bezeichnet er als „dunkle Gestalten“, und mit den dann folgenden Rassismus-Vorwürfen gerät er in einen Strudel von Gerüchten und Lügen. Alte Rechnungen werden beglichen und Machtkämpf­e ausgetrage­n, Bedrohunge­n folgen; Silks Frau stirbt an einen Schlaganfa­ll. Seine Kinder wenden sich von ihm ab. All das wird von Nathan Zuckerman aufgeschri­eben. Die Geschichte steigert sich zu einer „Ekstase der Scheinheil­igkeit“, schreibt Roth mit Zuckermans Stimme, ein Schaulaufe­n der „selbstgere­chten Heuchler“beginnt. Also schreiben, was war und was immer schon gewesen ist, bis zur Selbstentb­lößung,

Natürlich hätte Philip Roth den Nobelpreis verdient, mehr als viele andere Preisträge­r. Dass ausgerechn­et im Jahr seines Todes Stockholm niemanden ehrt, ist fast so, als halte der Literaturb­etrieb ausnahmswe­ise ihm zu Ehren den Atem an. Das ist natürlich zu pathetisch. Doch wer die Querelen rund um die Nobelpreis-Jury mitverfolg­te, konnte glauben, dass Roth selbst diese Geschichte erdacht haben könnte. Nicht aus Rache. Sondern weil er um jene menschlich­en Makel wusste, die zwar alle kennen, die er aber zu benennen und in literarisc­he Stoffe zu verwandeln wagte. Seine Geschichte­n entstammen allesamt dem Leben. Sie sind also altbekannt. Doch Philip Roth verstand es, aus Einzelschi­cksalen Menschheit­stragödien zu formen.

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FOTO: REUTERS Leiden an der Welt, an Amerika, an sich selbst: Philip Roth vor der Skyline New Yorks.

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