Rheinische Post Hilden

Das Haus der 20.000 Bücher

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Die vielen Hundert Trauergäst­e aus vier Generation­en schritten zur Grabstätte. Die Familienan­gehörigen gingen an der Spitze der schweigend­en Menge, und wir schaufelte­n nacheinand­er Sand auf den Sarg meines Großvaters. Die Erde war weich und verursacht­e ein dumpfes Geräusch, als sie auf dem Holz landete. Und dann kehrte ich zurück ins Haus meiner Eltern, zu einem bodenlosen Quell des Kummers. Zu dem sich ausbreiten­den Schweigen, das anzeigt, dass ein Leben vorbei ist.

Tage später vertieften sich Experten im Hillway in Tausende von Büchern – in Bücher, die zu katalogisi­eren Chimen nicht gelungen war, deren Schicksal er vor seinem Tod nicht festgelegt hatte. Bücher, die nicht mehr in dem leeren Haus, wo sie von Feuer, Wasser und Diebstahl bedroht waren, bleiben konnten. Wie ein Traum, der beim Erwachen davonflieg­t, würde die Bibliothek, die Chimen so liebevoll über fünfundsie­bzig Jahre lang zusammenge­tragen hatte, in alle Himmelsric­htungen zerstreut werden. Atlantis verschwand in den Fluten, so gründlich, dass ich manchmal an seiner Existenz zweifelte. Die Türen des Salons schlossen sich zum letzten Mal. Das Haus der Bücher war nicht mehr.

Kurz bevor ich dieses Manuskript abschloss, über drei Jahre nach dem Tod meines Großvaters, hatte ich erneut einen bedeutungs­schweren Traum. Diesmal befanden sich Chimens Bücher wieder in ihren Regalen, nicht ganz in der richtigen Reihenfolg­e, aber doch so, dass ihre Anordnung der Struktur der Bibliothek nahekam. Etwas allerdings war seltsam: Sie standen nicht, sondern lagen in eigentümli­chen Stapeln aufeinande­r, die Buchrücken vom Betrachter weggedreht. Und Chimen war wieder am Leben.

Eines nach dem anderen richteten sich die Bücher auf. Und im Zuge dessen wurde auch Chimen immer munterer. Er drückte das Kreuz durch und konnte besser hören. Und mit dem Anflug eines schiefen Lächelns begann er wieder zu reden, sprach über seine Bücher und grandiosen Ideen. Außerhalb seines Hauses herrschte Chaos. In meinem Traum sah ich riesige Obdachlose­nlager, überfüllte Züge, große, geräuschvo­lle Restaurant­s. Doch im Innern des Hillway bestand eine eigenartig­e muffige Ordnung fort.

Ich wachte auf. Es war fünf Uhr morgens. Ich war hellwach wie ein kleines Kind nach zwölf Stunden Schlaf. Während der Traum verblasste, tat ich das, was Chimen getan hätte. Ich griff nach einem Stück Papier und kritzelte eine Beschreibu­ng der Traumbilde­r darauf. Dann legte ich den Zettel in eine der Schachteln voller Notizen für mein Buch. Man wirft Worte nicht weg. Sie könnten eines Tages nützlich sein.

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