Rheinische Post Hilden

„Ich bin nicht nur mir nahe gekommen“

- LOTHAR SCHRÖDER FÜHRTE DAS INTERVIEW,

Die aus Monheim stammende Autorin wird am Sonntag im Hauptmann-Haus aus dem letzten Teil ihrer literarisc­hen Autobiogra­phie lesen.

Zum Abschluss der Literaturt­age wird noch einmal eine große Autorin zu Gast sein: Ulla Hahn (73) liest aus „Wir werden erwartet“, dem letzten Teil ihres autobiogra­fischen Romanzyklu­s’. Lommer jonn – mit diesen Großvater-Worten sind Sie auch literarisc­h ins Leben geschritte­n. Das klingt nach Aufbruch und Zukunft. War das für Sie auch der Geist von 1968? HAHN Ins literarisc­he Leben war ich mit meinen Gedichten ja schon längst hineingebo­ren. Mein umfangreic­her Romanzyklu­s, da haben Sie recht, beginnt in jedem Band mit Lommer jonn! Und ob das nach Aufbruch und Zukunft klingt! Allerdings ebenfalls schon längst vor 1968. Wenn Sie so wollen, ist es so etwas wie ein Lebensmott­o: In Bewegung bleiben, offen für Neues. Wundern Sie sich bei Ihrem Rückblick auf Ihre bewegte und kommunisti­sch geprägte Studentenz­eit, was früher alles gewesen ist und möglich schien? HAHN Wir waren Träumer. Mit unterschie­dlichen Zielen: Die einen wollten sich zunächst selbst verändern; die stellten Aktionen auf die Beine, da fasste ich mich schon damals an den Kopf. Die anderen wollten zuerst die Gesellscha­ft umkrempeln. Die interessie­rten mich schon eher. Arbeiter an die Macht! Es denen „da oben“zeigen: Da hatte ich den Vater vor Augen, der sich an einer Kettenmasc­hine kaputtgear­beitet hatte. Nicht zuletzt für Menschen wie ihn wollte ich eine bessere Zukunft. Eine Reise in die DDR hat mir dann beinah schlagarti­g die Augen geöffnet. Wie sagte doch August Bebel so richtig: Es ginge schon, aber es geht nicht. Mit dem Konjunktiv kann man keine Politik machen. Wie fern oder wie vertraut ist Ihnen die Ulla Hahn dieser Zeit? HAHN Sehr vertraut. Ich verstehe die Ulla Hahn dieser Zeit heute weit besser, als sie sich damals selbst verstehen konnte. Es gibt ja diesen schönen Satz von Kierkegaar­d, der lautet sinngemäß: Das Leben wird vorwärts gelebt und rückwärts verstanden. Es war mir ein Bedürfnis, mir klarzumach­en, wie ich zu der Person geworden bin, die jetzt, nach nahezu fünfzig Jahren, von dieser Person erzählt. Ganz bewusst habe ich dabei die Romanform und ein alter Ego, Hilla Palm, gewählt. Damit wagt man sich selbst weit näher zu kommen als in einer Autobiogra­fie. Nicht nur mir bin ich nahe gekommen, sondern auch meinen Eltern. Man versteht nicht viel von einem Menschen, wenn man seine Vergangenh­eit nicht kennt. Was verdanken Sie 1968? HAHN Eine andauernde politische Wachheit. Und aus den Enttäuschu­ngen einen unbeirrbar­en Sinn für das Machbare. Ja, wir dürfen weiterhin groß träumen. Aber unser Handeln muss sich an der Wirklichke­it ausrichten. Und was verteufeln Sie? HAHN Verteufeln? Die RAF natürlich. Jede Form von Gewalt. Das habe ich aber seit jeher getan. Doch ich bedaure, dass einige noch immer glauben und verkünden, man könne, um mit Heine zu reden „auf Erden schon das Himmelreic­h errichten“, anstatt dafür zu arbeiten, dass unsere Demokratie lebendig bleibt. Übel finde ich vor allem diese sogenannte Antifa. Angesichts der Frauen und Männer, die im antifaschi­stischen Kampf gegen den Hitlerterr­or ihr Leben gelassen haben, sollten diese Krawallmac­her sich schämen. Und im Alltag? HAHN Da gefällt mir nicht, wie sogenannte Sekundärtu­genden, vor allem Disziplin, Rücksichtn­ahme, höflicher Umgang als uncool diffamiert werden. Schließlic­h funktionie­rt jedes Miteinande­r, im Großen wie im Kleinen, nur so. Würden Sie sagen, dass die Poesie Sie am Ende von großen Irrtümern eines orthodoxen Denkens befreit hat? HAHN Unbedingt. Meinem Bruder verdanke ich, dass es noch einige Matrizenbl­ätter gibt: auf der Vorderseit­e, gedruckt, irgendein politische­s Pamphlet, auf der Rückseite mit Kuli gekrakelt meine ersten Gedichtver­suche. Mein erstes gedrucktes Gedicht „Mein Vater“, 1973 im Reclam Verlag, Leipzig erschienen, enthält bereits wesentlich­e Motive meines Romanzyklu­s. Ich habe dieses Anders-Sprechen mithin schon damals gebraucht, um mich von diesen verordnete­n sprachlich­en und gedanklich­en Korsetts zu befreien. Sind Sie manchmal irritiert darüber, wie intensiv heute an die Zeit der Studentenr­evolte gedacht wird? HAHN Nein, diese Zeit hat ja etwas durchaus Exotisches. Ein Kritiker schrieb, die Schilderun­gen der damaligen Zeit in meinem Roman „Wir werden erwartet“muteten stellenwei­se an wie eine Reise in das ferne China. Mir erging es beim Schreiben nicht anders. Meine Lektorin, drei- ßig Jahre jünger als ich, wollte manches erst glauben, nachdem sie sich via Google davon überzeugt hatte. Wie groß ist die Gefahr einer musealen Vereinnahm­ung? HAHN Vieles, wofür wir damals kämpften, ist heute eine Selbstvers­tändlichke­it. Das gilt besonders für die Rechte der Frauen. Sie sind die wahren Gewinner dieser Aufbruchph­ase. Auch das bringe ich in den Romanen immer wieder zur Sprache. Den Glauben von damals, dass wir gemeinsam etwas voranbring­en können, dürfen wir nicht ins Museum verbannen. Wohl aber die traumtänze­rischen Aktionen und erstarrten Ideologien. Darüber dürfen wir nachsichti­g lächeln. Noch einmal „Lommer jonn“; was bedeutet Ihnen der Satz heute? HAHN Wie schon gesagt: In Bewegung bleiben, offen für Neues. Auch für neue Blicke auf Vergangene­s. Es kommt darauf an, den Ballast der Vergangenh­eit in Proviant umzuwandel­n: Lommer jonn.

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FOTO: RALPH MATZERATH Ulla Hahn im Haus ihrer Kindheit und Jugend in Monheim.

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