Rheinische Post Hilden

Im Kopf von Ryuichi Sakamoto

- VON PHILIPP HOLSTEIN

Sehenswert­e Künstler-Biographie: Der Dokumentar­film „Coda“widmet sich dem japanische­n Musik-Genie und Oscar-Gewinner.

Die schönsten Momente dieses intensiven Films sind jene, in denen Ryuichi Sakamoto neue Klänge entdeckt oder besonders zufrieden ist mit einem Sound, den er soeben kreiert hat. Da steht er dann in seinem Studio und hört zu, und bevor die Stelle kommt, die ihn so glücklich macht, schaut er in die Kamera, reißt die Augen auf und tippt mit ei-

Er spielt auf einem

Klavier, das der Tsunami von 2011 stark

beschädigt hat

nem Zeigefinge­r in die Luft, als wolle er sagen: „Das ist sie, die endgültige Musik. Hör hin!“Und dann lacht er und nickt, und man würde ihn am liebsten in den Arm nehmen.

Die Dokumentat­ion „Coda“wurde in jener Zeit produziert, da der 66-Jährige sich tatsächlic­h gern in den Arm hätte nehmen lassen. Es ist das Jahr 2015, Sakamoto leidet an Mundrachen­krebs. Er braucht Ruhe und darf nicht arbeiten, aber er arbeitet doch und schreibt die Musik für den Hollywood-Film „The Revenant“. Er trägt einen Schal, schluckt schwer an den vielen Tabletten und setzt sich ans Klavier. Geht nicht anders, er muss.

Der Japaner Ryuichi Sakamoto ist ein Gigant. Er gründete in den 1970er Jahren die Band Yellow Magic Orchestra, die als japanische Ausgabe von Kraftwerk gilt. Er machte Elektropop; „Computer Games“und „Behind The Mask“waren auch in Europa Hits. Er arbeitete mit David Sylvian und schrieb Soundtrack­s für Hollywood-Filme wie „Merry Christmas Mr. Lawrence“, in dem er auch eine Hauptrolle an der Seite von David Bowie übernahm, und „Himmel über der Wüste“. 1988 bekam er mit David Byrne von den Talking Heads den Oscar für die Musik zur Bertolucci-Produktion „Der letzte Kaiser“.

Zuletzt veröffentl­ichte der enorm fleißige Sakamoto unter anderem einige Platten mit dem deutschen Elektro- und Techno-Produzente­n Carsten Nicolai alias Alva Noto. Sein großes Thema ist, wie man das Industriel­le und Menschenge­machte mit der Natur vereint. In „Coda“sieht man ihn im strahlenve­rseuchten Fukushima. Man begleitet ihn zu Demonstrat­ionen gegen Kernkraft. Als er sich halbwegs von der Krebsthera­pie erholt hat, geht er an die Arbeit zu seinem inzwischen veröffentl­ichten Album „async“. Er nimmt Vogelgezwi­tscher im Wald auf und legt es über Pianoakkor­de und elektronis­che Impulse. Ihm schwebt Musik vor, die die Atmosphäre aus Andrei Tarkowskis Filmklassi­ker „Solaris“aus dem Jahr 1972 einfängt. Komplexe Klanglands­chaften aus Wasser und Wind, die die Geräusche des Alltags immer wieder überlagern.

Stephen Nomura Schible hat „Coda“gedreht, und er reichert seinen Film mit Aufnahmen von Sakamoto-Konzerten an. Er ist so respektvol­l und spielt jedes Stück aus, und so hört man eine wunderbare Version von „Merry Christmas Mr. Lawrence“. Sakamoto spielt auf einem Klavier, das der Tsunami in Japan 2011 schwer versehrt hat. Das Wasser hob es auf Schulterhö­he, aber das Klavier überstand das Unglück. Sakamoto ließ es nicht stimmen. Ein Klavier, sagt er, werde mit maschinell­er Kraft und vielen Tonnen Gewicht in Form gepresst. Wenn es verstimmt ist, deutet das daraufhin, dass die Natur sich den Klang zurückholt. „Das verstimmte Klavier ist dabei, in seine natürliche Form zurückzuke­hren.“

Man sieht Sakamotos Studio in New York, klar und clean eingericht­et. Er sucht dort nach Klängen. Er streicht mit dem Cello-Bogen an einem Becken, dann mit dem Boden eines Kaffeebech­ers, und er versinkt geradezu in diesem anschwelle­nden Ton. Auch am 11. September 2011 war Sakamoto in New York. Und er erinnert sich an die unheimlich­e Stille. Die Stille ist die Schwester des Schlimmste­n. Einmal geht er an dem Warhol-Porträt seines jugendlich­en Gesichtes vorüber. Der grauhaarig­e Mandarin des kristallin­en Ambient trifft auf den Popmusiker, der die Geschwindi­gkeit und den Plastik liebte. Und so wird aus dem Film eine Lebenserzä­hlung.

Eine indes, die auch vom Sterben handelt. „Wie lange habe ich noch?“, fragte Sakamoto, als er die Krebs-Diagnose bekam. Er nahm sich vor, in der verbleiben­den Zeit Musik zu schaffen, die bleibt. Und so sieht man ihn am Nordpol, wie er ein Mikrofon in Tauwasser hält, das von einem hunderte Jahre alten Gletscher abfließt. Er fischt nach Tönen, steigt in den Brunnen der Vergangenh­eit, um zu hören, wie die Natur ohne Menschen klang. Daheim baut er das Rauschen, das er als klarsten und unschuldig­sten Sound bezeichnet, den er je gehört hat, in ein Stück für „async“ein.

Ein wenig irritieren­d ist, dass der Film so tut, als sei Sakamoto alleine auf der Welt. Die Kooperatio­nspartner seiner letzten Platten oder des Soundtrack­s zu „The Revevant“werden nicht genannt. Dennoch hat man am Ende das Gefühl, man habe Sakamoto verstanden, man habe in seinen Kopf geblickt. Kurz vor Schluss sieht man zu, wie er ein neues Stück baut. Er flicht ein Zitat des Schriftste­llers Paul Bowles zwischen die Töne, es stammt aus dem Buch „Der Himmel über der Wüste“, das Sakamoto in vielen Ausgaben besitzt, und es klingt wie die Essenz von Sakamotos Denken.

Es geht so: „Weil wir nichts wissen, denken wir gerne ans Leben als an einen unerschöpf­lichen Brunnen. Und doch passiert alles nur eine bestimmte Anzahl von Malen. Wie oft etwa wird man sich noch an einen bestimmten Nachmittag aus der Kindheit erinnern, der so tief drinnen Teil von einem ist, dass man sich kein Leben ohne ihn vorstellen kann? Vielleicht noch vieroder fünfmal. Vielleicht nicht einmal das. Wie oft wird man noch den Vollmond aufsteigen sehen. Vielleicht 20 Mal. Und doch scheint alles grenzenlos.“ Coda, USA 2017 – Regie: Stephen Nomura Schible, mit Ryuichi Sakamoto, 102 Min.

Bewertung:

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FOTO: EDITION SALZGEBER Der grau gewordene Ryuichi Sakamoto (66) in New York vor dem Warhol-Porträt seines jüngeren Ichs.

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